Louvre
Foto: shutterstock / Space Cat

Der Reiz des Originals

Ein außergewöhnliches Konzert in der Washingtoner Metro, Ausstellungen ohne Originale und die Aura in Museen

Von Bettina Schumann-Jung

Vor einigen Jahren trug sich in der Washingtoner Metro eine Szene zu, die nicht nur Musikliebhaber*innen in aller Welt aufhorchen ließ. Der berühmte Geiger Joshua Bell gab sich als Straßenmusiker aus und spielte zur morgendlichen Rushhour auf seiner mehrere Millionen Dollar teuren Stradivari. Keine einfachen Liedchen, sondern anspruchsvolle Stücke wie die Chaconne in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Was passierte, war nicht überraschend und doch irritierend: Fast alle der morgendlichen U-Bahn-Besucher*innen hasteten an Bell vorbei, und als er nach einer knappen Dreiviertelstunde sein Spiel beendete, hatte er gerade einmal 32 Dollar in seinem Geigenkasten.

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Warum das so war, ist schon schwieriger zu sagen. Scheinbar sind der Genuss von Kunst und ihre Wertschätzung eng verbunden mit einem bestimmten Ort, einer besonderen Stimmung und vielleicht auch damit, dass man den Genuss nicht frei Haus bekommt. Es hängt zusammen mit dem etwas altmodischen Begriff der Aura, der auch bei berühmten Kunstwerken verwendet wird und umgangssprachlich mit Ausstrahlung übersetzt werden kann.

Ausführlich beschrieben wurde der Begriff der Aura vor fast 100 Jahren von dem Philosophen Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Benjamin überlegt darin, wie durch das Aufkommen von Fotografie und Film unsere Wahrnehmung verändert wird und welche Unterschiede Reproduktion und Original kennzeichnet. Seine Schlussfolgerung ist, dass die Reproduktion für jeden frei verfügbar ist. Sie macht es dem Abbild des Originals möglich, „dem Aufnehmendem entgegenzukommen“ während dadurch gleichzeitig die Aura (das „Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“) verkümmert.

Foto: shutterstock / Achim Wagner
Der Reiz des Originals: Besucher betrachten die Büste der Nofretete im Neuen Museum Berlin.

Die Nofretete zum Beispiel entfaltet ihre Aura erst in dem eigens für sie konzipierten Raum im Neuen Museum in Berlin; stünde sie im Gerümpel eines Sperrmüllhaufens, dann würden die meisten achtlos an ihr vorbeigehen ähnlich wie an Joshua Bell, dessen Spiel erst in einem Konzertsaal mit zahlendem Publikum seine volle Wirkung entfaltet.

So weit so gut. Aber das Ganze ist noch ein Stück weit komplizierter. Was nämlich, wenn das berühmte Werk gar nicht echt, sondern eine Replik oder gar eine Fälschung ist? 2007 erschütterte ein Skandal eine Ausstellung im Hamburger Völkerkundemuseum, die die berühmte Terrakotta-Armee des Ersten Kaisers von China zeigte. Zumindest war sie so angekündigt. Tatsächlich stellte sich im Laufe der Ausstellung heraus, dass es sich bei den Tonfiguren nicht um Originale, sondern um Repliken handelte. Das Museum beendete die Schau vorzeitig und gab sogar allen Besucher*innen, die sie sich bereits angesehen hatten, die Eintrittsgelder zurück. Ihnen war ebenso wenig wie dem Museumsdirektor aufgefallen, dass es sich bei den bewunderten Kriegern nicht um die mehr als 2.000 Jahre alten Figuren aus der chinesischen Ausgrabungsstätte Xian handelte, sondern um Nachbildungen. Bis zur Aufdeckung war die Ausstellung allerdings ein großer Erfolg. Die Figuren hatten offensichtlich nichts von ihrer Aura eingebüßt, auch wenn es sich gar nicht um die Originale gehandelt hatte.

Was in Hamburg noch ein Skandal war, wird heute in sogenannten immersiven Ausstellungen gefeiert: virtuell inszenierte Schauen, bei denen die Besucher*innen gleichsam in die auf riesige Flächen an der Wand und auf dem Boden projizierten Bilder eintauchen können. Kunst wird hier auf spektakuläre Weise erlebbar und kommt ganz ohne Originale aus.

 

Foto: shutterstock / Tang Yan Song
Eintauchen in die Bilder der Vergangenheit: eine immersive Van-Gogh-Show in Singapur, 2023

Überraschenderweise scheinen die digitalen Bilder jedoch nicht das Bedürfnis zu ersetzen, die Originale zu sehen. Immer noch pilgern jedes Jahr Millionen in den Louvre, um die Mona Lisa zu bewundern, und wenn es nur für einen kurzen Augenblick im Gedränge der Massen ist obwohl das berühmte Gemälde in jeder nur denkbaren Kopie zu erhalten ist. Vielleicht ist es auch nur deshalb zur Ikone geworden, weil es im Museum als solche inszeniert wird.

Auch wenn im Gedränge weder dem Pinselstrich Leonardo da Vincis nachgespürt werden kann noch der Entstehungskontext des berühmten Gemäldes anschaulich wird, braucht es offensichtlich einen erhabenen Ort, um die Aura eines Werkes zu spüren. Das kann im Konzertsaal oder im Museum gelingen, aber auch an anderen Orten, die sich vom Alltäglichen abheben. Um Aura zu erleben, muss man sich nicht in die Besucherströme um die Mona Lisa im Louvre einreihen, es braucht keine Reise nach Rom in die Sixtinische Kapelle oder nach Amsterdam zu den Sonnenblumen Van Goghs: Man kann sie genauso gut vor einem Altarbild in einer kleinen Dorfkapelle erfahren am besten in einem Gottesdienst mit Gesang und Gebet.