Viele Nachfahren von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, die im Nationalsozialismus beraubt wurden, suchen bis heute auch in den Museen nach ihrem verlorenen Erbe. Die Suche ist eine diffizile, aber wichtige Arbeit – jeder gefundene Gegenstand kann ein Stück Familiengeschichte zurückbringen.
Von Lena Grundhuber
Eine anrührende Gestalt. Kaum größer als eine Hand ist der kleine Christus, den Kopf hält er geneigt, als drücke ihn die Last seiner Krone. Sein magerer, bronzener Körper scheint gezeichnet von Jahrhunderten, als er im August 2023 aus den Untiefen des 20. Jahrhunderts wieder auftaucht – in ein Päckchen verpackt an die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg geschickt, versehen mit der Bitte, das Kunstwerk an seine rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Absender: nicht ermittelbar.
Tatsächlich wird zu diesem Zeitpunkt bereits seit vielen Jahren nach der kleinen Plastik gesucht. Das Kruzifix, das wohl aus dem 13. Jahrhundert stammt, hat einst Ottmar Strauss (1878-1941) gehört, einem Kölner Unternehmer und Sammler vornehmlich alter Kunst. Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, muss er als Jude seine Firma verlassen und verkauft schließlich seine Kunstsammlung, um die Flucht zu finanzieren. Strauss stirbt 1941 in Zürich; seine Erben sind bis heute auf der Suche nach Kunstwerken aus seiner Sammlung. Dass der kleine Christus an das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gesendet wurde, ist äußerst ungewöhnlich, aber auch kein Zufall: Die Stiftung ist in Deutschland die zentrale Förderinstitution für die Erforschung von „unrechtmäßig entzogenem Kultur- und Sammlungsgut“, wie es in der Fachsprache heißt – in erster Linie von jenen Kulturgütern, die jüdischen Bürger*innen im Nationalsozialismus abgepresst oder geraubt wurden, aber zum Beispiel auch von Sammlungsgütern, die aus kolonialen Zusammenhängen kommen.
Lena Grundhuber, Jahrgang 1977, hat Germanistik in München studiert, ist gelernte Journalistin und hat als Kulturredakteurin gearbeitet. Aktuell ist sie Pressesprecherin bei der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg.
Foto: Deutsches Zentrum Kulturgutverluste / Stefan Deutsch
In der sogenannten Lost-Art-Datenbank, die von der Stiftung betrieben wird, sind Kulturgüter verzeichnet, die den Verfolgten in der Nazi-Zeit entwendet wurden oder entwendet worden sein könnten. Sucht man hier nach der Sammlung Strauss, so findet man etwa 2.000 noch vermisst gemeldete Kunstwerke – „restituiert wurden bislang knapp 60 Gegenstände aus öffentlichen Einrichtungen oder von privat“, sagt die Rechtsanwältin der Erben, Imke Gielen. Eine Relation, die veranschaulicht, wie viel fast 80 Jahre nach dem Holocaust noch im Dunkeln liegt. Lange, zu lange hat es gedauert, bis die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs zumindest für die öffentlichen Institutionen ernsthaft angegangen wurde. Und viele der Kunstwerke liegen eben gar nicht in Museen: „Man muss davon ausgehen, dass das meiste in Privatbesitz ist, und wenn derjenige sich nicht von selbst meldet, wird man einen Gegenstand nicht finden“, sagt Imke Gielen. Die Einsendung des Christus war daher auch für sie eine Überraschung: „So was wie mit dem Kruzifix hab‘ ich noch nicht erlebt.“
Die Museen erkennen berechtigte Ansprüche heute durchaus an, sagt Gielen. Wo die Quellenlage aber nicht ganz eindeutig ist, können sich Verhandlungen auch lange hinziehen. Mit manch großer, internationaler Institution ist die Juristin seit Jahren im Gespräch, wie sie sagt. Denn Sammlungen wie die von Strauss sind heute häufig über die ganze Welt verstreut. Von München über Nürnberg bis nach Kopenhagen und in die USA reicht die Liste der Museen, die sich mit den Erben von Strauss über Restitutionen geeinigt haben, das heißt: Kunstwerke zurückgegeben oder eine andere Einigung mit den Nachfahren gefunden haben. Darunter sind große Häuser wie das Bayerische Nationalmuseum, das Erzbischöfliche Diözesanmuseum Köln und das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main – aber auch ein Museum im sächsischen Glauchau.
Dort, im Museum Schloss Hinterglauchau, hat man drei asiatische Vasen aus dem Eigentum von Ottmar Strauss identifizieren können, rund 90 Jahre, nachdem der Sammler sie veräußern musste, um die „Reichsfluchtsteuer“ der Nazis zu begleichen und sein Leben zu retten. Rein kunsthistorisch sind die Vasen für eine kleine Sammlung wie Glauchau natürlich ein Verlust: „Mit einem lachenden und einem weinenden Auge“ gebe man sie zurück, sagt Museumsleiterin Wiebke Glöckner. Andererseits sei man stolz darauf, die Nachforschungen nach der Herkunft der Vasen mit einer Restitution abschließen zu können, „weil wir uns dem proaktiv gestellt haben und das für uns als kleineres Museum ein größerer Kraftakt ist als für ein großes Haus“.
Das Glauchauer Museum ist ein Beispiel dafür, dass auch kleine Institutionen inzwischen sensibel für das Thema sind und nach der Herkunft ihrer Exponate fragen. Und so wenig nur die großen Museen betroffen sind, so wenig geht es nur um teure Kunstwerke und Sammlungen wohlhabender Industrieller. Oft sind es ganz unscheinbar wirkende Objekte, die für die Familien der NS-Opfer aber große Bedeutung haben können: Möbel, Fotografien, Taschenuhren, Puppengeschirr, Bücher – die Datenbank Lost Art enthält abertausende traurige Belege für den umfassenden Raub an jüdischen Bürger*innen, denen buchstäblich das letzte Hemd genommen wurde.
Wie viele von den Millionen verlorenen Objekten wirklich wieder bei den rechtmäßigen Eigentümer*innen angelangt sind, ist unmöglich zu ermessen. Und was bis heute nicht nur in Kunstmuseen, sondern auch in Heimat-, Technik-, Archäologie, Schifffahrts-, Post- oder Jagdmuseen, in Universitäten, Archiven und Bibliotheken auf Entdeckung harrt, ist ebenso unmöglich abzuschätzen. Seit auch die Suche nach Raubgütern aus der Kolonialzeit vorangetrieben wird, stehen nun ethnologische Museen und naturkundliche Häuser sowie medizinische und anatomische Sammlungen verstärkt im Fokus der Forschung: Die sammelwütigen europäischen Kolonialherren interessierten sich nicht nur für Kunst und Bodenschätze, sondern erbeuteten auch menschliche Überreste in den eroberten Gebieten, um zu Hause daran „Rasseforschung“ zu betreiben. In der Geschichte der Raubkunst spiegeln sich so auch die unheimlichen Kontinuitäten, die von den Rassenlehren des 19. Jahrhunderts zur Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten führen.
Raubgut also kann überall sein; die Suche danach gleicht der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Sie erfordert Zeit, Geduld, Wissen, Geld und Fingerspitzengefühl. Doch jedes einzelne Stück ist der Mühe wert: Manchmal kann ein abgegriffenes Gebetbuch das einzige Stück sein, das einer jüdischen Nachfahrin vom Großvater bleibt und die Erinnerung an eine fast ausgelöschte Familiengeschichte bewahrt. Und manchmal ist es eben ein kleiner Christus, der unverhofft wieder auftaucht, verpackt in ein Paket und angetreten, wenigstens 18 Zentimeter Gerechtigkeit zu schaffen.