Als das Mädchen mit dem blauen Kleid dem weißen Kaninchen folgt, beginnt die absurde Reise: Alice taucht ein in die Welt des Wunderlands mit ihrem Spiel aus Logik und Absurditäten und bezaubernd verrückten Gestalten. Die kongenialen Illustrationen des britischen Zeichners John Tenniel geben den Figuren von Lewis Caroll bis heute ein unverwechselbares Gesicht.
Von Mirjam Meßmer
Als sie mit ihrer Schwester im Gras sitzt, entdeckt die zehnjährige Alice ein sprechendes weißes Kaninchen. Neugierig folgt sie dem Tier in den Kaninchenbau und landet in einer seltsamen, bisweilen beängstigenden Welt. Hier erlebt sie allerhand sonderbare Dinge: Sie wechselt mehrmals ihre Körpergröße, begegnet diversen fantastischen Tieren und herausfordernden Charakteren. Am Ende soll Alice als Zeugin in einer Gerichtsverhandlung aussagen – bevor es dazu kommen kann, erwacht sie aus einem langen, abenteuerlichen Traum.
Im Laufe der Zeit wurde „Alice im Wunderland“ in mehr als 170 Sprachen übersetzt, seit 2021 existiert eine Version auf Klingonisch – einer Sprache aus dem Star Trek-Universum. Irgendwie passend zu dieser surrealen Traum-Geschichte vom Wunderland, die zu den Klassikern der Weltliteratur zählt. Neben weit über 20 Verfilmungen sind die Abenteuer des Mädchens Alice als Theaterstück, Musical, Ballett oder auch als Oper zu finden. Kunstmuseen rund um den Erdball widmen dem Allzeit-Klassiker Ausstellungen und komplette Schauen, wie etwa die Kunsthalle Hamburg (2012), das ArtScience Museum Singapur (2019) oder das Victoria & Albert Museum in London (2023).
Motive aus „Alice im Wunderland“ sind in fast jedem Lebensbereich zu finden – nicht nur in den unterschiedlichen Kunstgattungen, auch in der Wissenschaft. Die beliebten, skurrilen Charaktere wie das weiße Kaninchen, der Hutmacher, die Grinsekatze oder Alice selbst haben längst Einzug in die Popkultur gehalten. Musikalisch begegnen wir ihnen etwa bei Tom Petty, Aerosmith oder Gwen Stefani. Eines der bekanntesten Filmzitate dürfte eine der Schlüsselszenen im Kultfilm „Matrix“ sein, in der Protagonist Neo den für ihn entscheidenden Hinweis „Folge dem weißen Kaninchen“ erhält.
Das Kinderbuch von Lewis Carroll erschien erstmals 1865 mit Illustrationen von John Tenniel. Es ist jedoch nicht nur eine Geschichte für Kinder, und ihre Faszination hält seit mehr als 150 Jahren an. Vielleicht, weil in jedem Menschen etwas von dem mutigen kleinen Mädchen steckt, das sich mit neugierigen Augen in eine fremde Welt stürzt.
Um bei der Entdeckung dieser Welt an der eigenen Courage zu zweifeln, um zu groß oder zu klein für eine Situation zu sein – manchmal auch passend. Um ängstlich oder mutig zu sein, verwirrt oder klug. Um sich zu amüsieren, Neues zu lernen oder sich auf Altes zu besinnen. Um in den Begegnungen mit dem weißen Kaninchen, dem verrückten Hutmacher, der wunderlichen Grinsekatze und der grausamen Herzkönigin zu bestehen. Und vielleicht auch, weil wir wissen, dass wir jederzeit das Wunderland verlassen und uns entscheiden können, was wir im Traum belassen und was wir mit uns nehmen möchten.
Alle Illustrationen: John Tenniel (1820–1914), From the British Library archive
Zitate aus: Lewis Carroll; Alices Abenteuer im Wunderland, Stuttgart 1999
Am Schluss malte sie sich aus, wie ihre kleine Schwester hier, in späterer Zeit, selber eine erwachsene Frau sein würde; und wie sie sich, ihr ganzes reifes Leben hindurch, ihr schlichtes liebendes Kinderherz bewahren würde; und wie sie andere Kinder um sich versammeln und dann deren helle Augen mit so mancher merkwürdigen Geschichte zum Leuchten bringen würde, vielleicht sogar mit dem weit zurückliegenden Traum vom Wunderland; und wie sie all ihre kleinen Sorgen mitfühlen und an all ihren kleinen Freuden Vergnügen haben würde, wenn sie dabei an die eigene Kinderzeit zurück denken würde und an die Sommertage voller Glück.
„Vertreiben lassen mag sich ZEIT nämlich nicht. Aber, wenn du dich mit ZEIT gutstellen würdest, ließe ZEIT die Uhr fast immer so gehen, wie du wolltest. Nimm zum Beispiel mal an, es wäre neun Uhr morgens, und der Unterricht soll beginnen: du brauchtest ZEIT nur einen Wink zu geben: im Nu ist der Zeiter herumgerast! Halb zwei, Zeit fürs Mittagessen!"