Drei Traum-Gedichte

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1

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Joseph von Eichendorff, Mondnacht, 1835


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2

In den Tag
Trag' ich sorglich, schwarzen Sammet drüber,
Meinen großgeaugten Traum herüber
Aus der Nacht.

Aus der Nacht
Führt mich nicht die altvermorschte Stiege;
Einst gleit' ich im Schaukeln gold'ner Wiege
In den Tag.

Gertrud Kolmar, Aus der Nacht, 1918


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3

Traum ist Brokat der von dir niederfließt,
Traum ist ein Baum, ein Glanz der geht, ein Laut –;
ein Fühlen das in dir beginnt und schließt
ist Traum; ein Tier das dir ins Auge schaut
ist Traum; ein Engel welcher dich genießt
ist Traum. Traum ist das Wort, das sanften Falles
in dein Gefühl fällt wie ein Blütenblatt
das dir im Haar bleibt: licht, verwirrt und matt –,
hebst du die Hände auf: auch dann kommt Traum,
kommt in sie wie das Fallen eines Balles –;
fast alles träumt –, du aber trägst das alles …

Rainer Maria Rilke, 1906