Von der Wunderkammer bis zum Museum auf Rezept

Museen waren nicht immer Museen. Heute verbirgt sich hinter dem Begriff etwas anderes als noch zu seinen Anfängen. Vom erstaunlichen Wandel und der ungebrochenen Aktualität einer faszinierenden Einrichtung.

Von Solveig Michelsen

1. Der Museumsbegriff

Das griechische Wort „mouseion“ bezeichnete in der Antike ein Heiligtum, das den Musen gewidmet und nur wenigen Auserwählten zugänglich war. Im späten Mittelalter verstand man unter einem Museum vor allem Naturalien- und Reliquienkammern, die allerlei kuriose Objekte enthielten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Museum zur Lesegesellschaft bzw. deren Gebäude. Aus diesen Leseclubs entwickelte sich das Museum als Treffpunkt des höheren Bürgertums zur Zeitungslektüre und zum Meinungsaustausch. Heute bezeichnet man als Museum „eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht” (ICOM Deutschland, Nationalverband des internationalen Museumsverbandes). Dabei herrscht weitgehend Einigkeit über die vier grundlegenden Aufgabenbereiche eines Museums: Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln.

2. Vorläufer der Museen

Immer mehr Adelige verfügten bereits ab dem 14. Jahrhundert über eine Kuriositätensammlung – natur- und völkerkundliche Objekte, die zum einen das wissenschaftliche, aber auch das voyeuristische Interesse an allem Fremdartigen befriedigte, zum anderen auch die Relevanz ihres jeweiligen Besitzers hervorkehrte: Nur bedeutende Herrscher bekamen großzügige Geschenke aus Übersee (oder entwendeten diese). Zu den bekanntesten Kunstkammern der Frühen Neuzeit zählte die Brandenburgisch-Preußische Kunstkammer in Berlin, die während des Dreißigjährigen Kriegs fast vollständig vernichtet wurde. Die Faszination an Raritäten setzte sich in der Spätrenaissance und im Barock in den Wunderkammern weiter fort, bevor diese im Laufe des 19. Jahrhunderts in Naturkundesammlungen aufgingen.

Bild: Wunderkammer der Universität von Dublin, Illustration von 1819, PD Houghton Library

3. Das erste Museum der Welt

Erklären statt Wundern: Auch wenn die Wunderkammern Wesentliches dazu beigetragen hatten, die Forschungsdisziplinen zu entwickeln und gegeneinander abzugrenzen, genügten sie dem rationalen und skeptischen Zeitgeist bald nicht mehr. Schon 1649 hatte René Descartes in seinem Buch „Die Leidenschaften der Seele“ geäußert, dass ein Zuviel an Verwunderung negativ sein könne, da es den Gebrauch des Verstandes verhindere oder pervertiere. Im Kunstmuseum Schloss Ambras bei Innsbruck ist eine solche Kunst- und Wunderkammer noch enthalten; es gilt als erstes Museum der Welt, dem ein eigenes Gebäude zugedacht war. Selbst wenn es in erster Linie Repräsentationszwecke erfüllte, gab es bereits zu Lebzeiten seines Erbauers Ferdinands II. entgeltliche Führungen – eine Annäherung an die öffentliche Zugänglichkeit und damit an die heutige Museumsdefinition. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden vermehrt so genannte Musentempel errichtet, die immer öfter auch einen Bildungsauftrag wahrnahmen.

Foto: KHM-Museumsverband

4. Ausdifferenzierung der Museen

Der ursprünglichen Unterscheidung von kunsthistorischen, kulturhistorischen und kunstgewerblichen Museen folgte eine immer stärkere Ausdifferenzierung, die weiter anhält. Heute unterscheidet man im Wesentlichen archäologische, ethnologische, historische und naturwissenschaftliche Museen sowie Kunst-, Architektur- und Technikmuseen. Daneben gibt es noch Schloss- oder Burgmuseen und Heimatmuseen mit stark regionalem Bezug, außerdem kirchliche Museen, jüdische Museen, Firmenmuseen und Sammlungen in Privatbesitz.

5. Neue Museumsarten

Neue Themenfelder wie z.B. die Nachhaltigkeit bringen neue Museumsspielarten hervor. Das so genannte grüne Museum beschäftigt sich nicht nur mit ökologischen Aspekten, sondern gestaltet sein Programm, seinen Betrieb und sein Gebäude nach nachhaltigen Kriterien. Seit den 1990er Jahren auf dem Vormarsch sind interaktive oder Hands-on-Museen, die ihr Publikum aktiv miteinbeziehen und sich damit vom verstaubten Ansatz „Exponat + schriftlicher Erklärtext“ lösen. Die Erweiterung dessen sind immersive Museen, die möglichst viele Sinne der Besuchenden ansprechen, mit dem eigentlichen Museumszweck aber oft nur noch wenig gemein haben. Hier geht es mehr ums Erleben – und wieder ums Wundern, wie beispielsweise bei Teamlab Planets oder Viva Frida Kahlo.

Auch die Digitalisierung bringt neue Blüten hervor: Viele Memory Museums, die an historische, meist tragische Ereignisse erinnern, gibt es auch als Online-Variante oder -Erweiterung. Andere Sammlungen wiederum eignen sich bestens für das Format Internet in Reinform.

6. Die Rolle der (Innen-)Architektur

Lange Zeit war der Fokus ausschließlich auf ein bestimmtes Exponat gerichtet. Nach und nach wurde man sich der Wirkung der unterschiedlichen Präsentationsformen bewusst und fing an, damit zu experimentieren. Eine große Rolle spielt dabei die räumliche Inszenierung (Anordnung, Singularität, Farbigkeit u.a.), die durch Beleuchtungs- und Audioeffekte zusätzlich unterstützt werden kann. Über den unmittelbar umgebenden Raum hinaus fällt auch der Architektur des gesamten Gebäudes eine tragende Rolle zu – die Gesamtwirkung einer Einrichtung, die Aura eines Museums, überträgt sich ein Stück weit auch auf das Exponat. Nicht allein deshalb wetteifern viele Museen um die originellste Bauweise oder Fassade (siehe Highlights der Museumsarchitektur).

Foto: Museum der Zukunft in Dubai, shutterstock posztos

7. Neudefinition

Im August 2022 wurde in Prag eine neue Museumsdefinition verabschiedet. Sie erweitert die bisherige um einige Aspekte wie Barrierefreiheit, Inklusion, Diversität und Nachhaltigkeit. Die offizielle deutsche Übersetzung der ICOM (International Council of Museums) lautet nun: „Ein Museum ist eine nicht gewinnorientierte, dauerhafte Institution im Dienst der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und partizipativ mit Communities. Museen ermöglichen vielfältige Erfahrungen hinsichtlich Bildung, Freude, Reflexion und Wissensaustausch.“

Foto: shutterstock, SeventyFour

8. Zukunft des Museums

In Frankreich, Belgien und der Schweiz, in Großbritannien, Kanada und mehreren skandinavischen Ländern ist es bereits Wirklichkeit: das Museum auf Rezept. Das Arts Council England hat festgestellt, dass Arztbesuche um 37 Prozent, Krankenhauseinweisungen um 27 Prozent zurückgehen, wenn Menschen regelmäßig Kunstgalerien und Museen besuchen. Nun wird es gezielt bei depressiven oder schwer kranken Patientinnen und Patienten eingesetzt. Mit Folgen wie Stimmungsaufhellungen, gestiegene Lebenszufriedenheit und höheres Selbstwertgefühl. Das Stresshormon Cortisol sinkt, wenn wir Kunst auf uns wirken lassen. Der Blutdruck wird durch das kontemplative Betrachten gesenkt. Und der Austausch über das Gesehene hat auch eine starke soziale Komponente (was wiederum die Oxytocin-Bildung anregt). Alles in allem: lauter gute Gründe für einen sofortigen Museumsbesuch!

Schweiz: Museumsbesuche auf Rezept – in der ARTE Mediathek bis 29.01.2025 verfügbar, Beitragslänge: 2:30 Minuten