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Alles kann zum Ziel der Sammelleidenschaft werden, selbst heute nicht mehr verwendbare Floppy-Disks.

Acht Milliarden Museen

KOLUMNE

von Christian Topp

„Sammler sind glückliche Menschen“, soll Goethe einst gesagt haben. Ganz sicher ist sich die verschworene Gemeinschaft der Zitate-Sammler aber nicht. Womöglich stammt das Bonmot auch von Bertolt Brecht, der sich in seiner Jugend einen Spaß daraus gemacht haben soll, Goethe-Zitate zu erfinden. Ob Sammlerinnen und Sammler wirklich glücklicher sind als Fahrradfahrer oder Kleingärtnerinnen, wurde anscheinend noch nie wissenschaftlich untersucht – zumindest legt das eine kurze online-Recherche nahe. Was man ernsthaft sammelnden Menschen aber unterstellen darf, ist eine fast schon krankhafte Ausdauer.

Der US-Amerikaner Dick Falenski zum Beispiel hat Golfbälle gesammelt, sein ganzes erwachsenes Leben lang. Im Zeitraum zwischen 1965 und 2017 soll er mehr als 90.000 davon mit nach Hause gebracht haben. 52 Jahre lang knapp fünf Bälle an jedem Tag – Wochenenden, Feiertage und Urlaub eingeschlossen. Als Balljunge ist Dick Falenski kaum zu schlagen, bei der Originalität seiner Sammelobjekte durchaus. So hat der Italiener Eduardo Flores mehr als 15.000 Bitte-nicht-stören-Schilder aus Hotels zusammengetragen, und sein Landsmann, der Magier Donato de Santis, 8.520 unterschiedliche Joker-Karten – der ideale Grundstock für ein noch zu bauendes Joker-Museum.

Nicht bei allen Menschen, die gerne sammeln, wirkt die Leidenschaft schon zu Lebzeiten pathologisch. Manchmal wird sie auch erst im Rückblick dazu. Im Nachlass meiner Großmutter zum Beispiel bin ich völlig unerwartet auf mehrere Schubladen voll mit gebrauchten kleinen Plastiktüten gestoßen. Die meisten von ihnen hatten wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten kein Tageslicht mehr gesehen. Mein Erbe: eine klebrige Plastikmasse, weil die Weichmacher längst entwichen waren.

Einen anderen Verwandten wiederum würde ich im Nachhinein als wahren Großmeister des Sammelns bezeichnen. Er hat ein ganzes Leben gesammelt: sein eigenes. Seit seiner Jugend hat er jeden Tag notiert, wo er war, was er ausgegeben hat, wieviele Höhenmeter er zurückgelegt hat. Zur Beglaubigung dieser sachlichen Tagebucheinträge hat er alle Belege dazu aufgehoben. Bei einer Lebenszeit von fast 90 Jahren ist eine ganze Menge zusammengekommen, laufende Meter an Kisten, Kladden und Aktenordnern. Besonders eindrucksvoll: eine vollständige Sammlung von Strafzetteln aus fast 70 Jahren als praktizierender Autofahrer.

Die Zeit scheint reif für eine ultimative Erweiterung des Museumsbegriffs. Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten sozialgeschichtliche Themen vermehrt in den Fokus der musealen Erinnerungskultur gerückt sind, stehen wir vor dem nächsten Schritt: Die Ausstellung des gelebten Lebens im Verhältnis eins zu eins. In den sozialen Medien kann man die ersten Versuche bereits seit einiger Zeit beobachten. Eine Avantgarde von Userinnen und Usern stellt dort ihren Alltag minutiös zur Schau. Nichts scheint unwichtig genug, um nicht der ganzen Welt gezeigt zu werden. Falls diese Entwicklung so rasant weitergeht, wird schon bald fast jeder der derzeit rund acht Milliarden Menschen auf dieser Welt sein eigenes Museum sein. Fragt sich nur, woher dann noch die Besucherinnen und Besucher kommen sollen.