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Oase der Verbindlichkeit

KOLUMNE

von Christian Topp

Das deutsche Oasen-Biotop ist viel zu vielfältig, um als Monokultur durchzugehen: Da versprechen kommerzielle Fitness-Oasen schnelle Fortschritte bei der körperlichen Selbstoptimierung und Wellness-Oasen flüstern einem zu, dass Erholung und Entspannung nur eine Frage des nötigen Kleingelds sind. Es gibt Getränke-Oasen, die unserem nüchternen Alltag rauschhafte Züge verleihen wollen und Cafés, die ihre Oase im Namen tragen. Es gibt Kunst-, Preis- und Back-Oasen in verschiedenen Regionen und nicht zuletzt eine FKK-Oase in Friedrichsdorf bei Frankfurt am Main, deren Angebot anscheinend nur bedingt jugendfrei ist.

Ein Platz auf der mit Abstand populärsten deutschen Oase kostet derzeit rund 18 Cent pro Quadratmeter. Das zumindest ist laut Bundesverband der Kleingartenvereine Deutschlands e.V. (BKD) der jährliche Durchschnitts-Pachtpreis für die rund 900.000 Parzellen in ganz Deutschland. Was mittlerweile bei jungen Familien und Großstadthipstern durchaus als Sehnsuchtsort gilt, war ursprünglich aus der Not geboren. Der erste offizielle Kleingartenverein ist 1814 aus einem Armengarten in Kappeln an der Schlei (Schleswig-Holstein) hervorgegangen. Der 28. April, der Tag also, an dem dort Gartenregeln formuliert und die ersten Pachtverträge ausgestellt wurden, gilt heute als Gründungsdatum der mittlerweile in vielen Weltregionen populären Kleingartenbewegung.

Mehr als 150 Jahre lang waren die urbanen Kleingärten vor allem Oasen des nackten Überlebens: Selbstversorgung, um nicht zu verhungern. Wer heute sentimental auf die Berliner Laubenpieper-Kultur zurückblickt, muss sich nur vergegenwärtigen, dass sie ein Ergebnis der massiven Wohnungsnot Ende des 19. Jahrhunderts ist. Damals besetzten verzweifelte Menschen Freiflächen in der Stadt, bauten Bretterbuden und pflanzten an, was sie zum Überleben brauchten. Heute erinnert in den Kolonien nichts mehr daran, dass sie in ihren frühen Jahren eher heutigen Slums glichen.

Die moderne Kleingartenkultur hat sich in vielen Anlagen emanzipiert von ihrem spießigen Ruf – auch wenn das Bundeskleingartengesetz in manchen Fragen nur einen kleinen Spielraum lässt. Demnach muss bis heute mindestens ein Drittel der Parzellenfläche für Obst- und Gemüseanbau genutzt werden. Die Idee der Selbstversorgung lebt in dieser Regelung weiter, überwacht durch obligatorische Kontrollgänge des Vorstands. So mancher Kleingartenveteran erinnert sich ungern an diese Begehungen, die unter Umständen zu Abmahnungen führen konnten. Für notorische Wiederholungstäter sieht das Gesetz bis heute die Kündigung des Pachtvertrages vor.

Jüngere Pächterinnen und Pächter kennen die Horrorgeschichten von selbstherrlichen Vorständen und despotischer Regelungswut bis ins kleinste Detail der Gartengestaltung oft nur noch aus den Erzählungen der Alten. Denn seit einiger Zeit ändert sich die Altersstruktur in den Gartenanlagen rapide. Fast die Hälfte aller Neubewerbungen kommt von jungen Familien. Und überhaupt ist die Kleingartenkolonie vor allem seit den Zeiten der Covid-Pandemie auch für junge Menschen zum Sehnsuchtsort geworden. Denn hinter Zäunen und Hecken lässt sich so etwas wie ein naturnahes Leben imitieren, ohne dabei auf die Errungenschaften der modernen Zivilisation verzichten zu müssen. Hier lernt man, dass frische Erdbeeren nur ein paar Wochen im Jahr erntereif sind, diese aber dann so viel besser schmecken als all die auf Haltbarkeit gezüchtete Supermarkt-Ware. Hier werden harmlose Schnecken plötzlich zu einer existenziellen Bedrohung. Hier lernt eine ganze Generation, der man gern ihre Unverbindlichkeit vorwirft, dass vor dem Ertrag die Arbeit steht, die Gartenarbeit – zuverlässig und mehrfach in der Woche wollen die Pflanzen gehegt und gepflegt werden. Der Kleingarten ist eine Oase der Verbindlichkeit.