Reif für die Insel

Die Insel ist ein beliebter literarischer Ort: Robinson Crusoe und sein Diener Freitag, Willy Wonka mit seiner Schokoladenfabrik, Gulliver auf der Insel Liliput oder Ben Gunn auf der Schatzinsel. Sie alle leben dort in einer Art Isolation und finden so zu sich selbst. So kann es sein, dass eine Insel am Ende auch zu einer Oase wird, die Leben spendet. Wie in einer ganz anderen Geschichte.

Von Alexander Schweda

Es ist schon so: Beides sind Orte, die Sehnsüchte auf sich ziehen: die Oase und die Insel. Sie haben etwas Paradiesisches an sich. Obwohl sie ja völlig gegensätzliche Umgebungen haben: Die Insel ist von Wasser umspült, die Oase vom Sand der Wüste. Beiden gemein ist, dass sie eng umgrenzt und auf allen Seiten getrennt vom Rest der Welt sind, eine kleine Welt für sich eben. Man könnte sich vorstellen, dass ein Oasenbewohner sich auch auf einer Insel wohlfühlt und umgekehrt. Denn wer das Kleine und Abgeschiedene schließlich mal gewöhnt ist …

Ein berühmtes Beispiel für einen Ortswechsel von der Oase in der Wüste zur Insel im Wasser ist Herr Tur Tur. Wie, den kennen Sie nicht? Das ist der bekannte Scheinriese in den Geschichten von Michael Ende über Jim Knopf und Lukas, den Lokomotivführer. Seine wunderliche Eigenschaft ist, dass er aus der Ferne riesengroß wirkt. Aber je näher er kommt, desto kleiner wird er. Daher: Scheinriese.

Vom Schreckgespenst zum Leuchtturm

Die meisten Wüstenbewohner haben allerdings solche Angst vor diesem Riesen, dass sie gar nicht abwarten können, bis er schrumpft und kleiner wird. Sie türmen schon, wenn sie ihn nur am Horizont der weiten Wüste auftauchen sehen. Der arme Herr Tur Tur! Ist er doch eigentlich ein friedlicher, empathischer, hilfsbereiter und einsamer Mann, der gerne mehr Gesellschaft hätte.

Dieser Scheinriese also wohnt im ersten Band der Geschichte in seiner Oase in der Wüste am Ende der Welt. Aber im zweiten Band holen ihn Jim Kopf und Lukas auf ihre Insel Lummerland, weil sie ihn dort als Leuchtturm brauchen. Mit einer wundervollen Konsequenz: Während er in seiner Oase von der Umwelt gefürchtet und gemieden war, ist er jetzt auf der Insel geschätzt und gebraucht, weil er als Scheinriese mit der Laterne in der Hand dafür sorgt, dass Schiffe nicht mit der Insel kollidieren.

Tur Tur, der Scheinriese, Illustration
© Thienemann Verlag
Tur Tur, der Scheinriese, Illustration: F.J. Tripp, M. Weber

Eine geniale Aufgabe für ihn und eine Erleichterung für die Lummerländer! Denn auf ihrer kleinen Insel ist eigentlich kein Patz mehr, um einen Turm zu bauen. Aber Herr Tur Tur braucht nicht viel Platz und ist von der Ferne trotzdem riesig. Zugleich ist die Insel so klein, dass niemand auf Lummerland vor dem Scheinriesen Angst haben muss, sieht er doch ganz normal groß aus. Eine Win-win-Situation!

So schnell kann sich die eigene Rolle ins Gegenteil verkehren – je nach Umgebung! Das erinnert irgendwie an die Pinguine: Unbeholfen und tapsig bewegen sie sich auf dem Land, man wundert sich über die komischen Vögel. Aber im Wasser: holla, die Waldfee! Da flitzen diese Tiere pfeilschnell durchs Wasser. Da sind sie in ihrem Element. Von der Eisschollen-Insel in die Wasser-Oase! Und schon ist alles anders. Genauso wie bei Herrn Tur Tur.

Oase oder Insel: Das bedeutet für Herrn Tur Tur zum einen ausgestoßen und zum anderen angenommen zu sein. Die Insel ist für ihn damit doch wieder zur Oase geworden. Womit wir sehen, wie nah diese beiden Orte in unserer Fantasie zusammenliegen. Manche sind reif für die Insel, die anderen sehnen sich nach einer Oase. Und wenn die Insel zur Oase wird, sind wir dem Paradies wieder ein Stückchen nähergekommen.