Wanderoase für unsere Mitmenschen sein

Oasen müssen nicht nur Orte auf unseren Wanderungen durchs Leben sein; auch unsere Mitmenschen können zu Oasen werden. Zu Wanderoasen, die uns als Tourguides Momente des Hoffens und der Freude schenken, die uns aufatmen lassen und uns das geben, was wir gerade brauchen.

Von Christian Woecht

In der Negev, der Wüste im südlichen Israel, gibt es mitten in toter Landschaft Wasserstellen, die einst nur die Nabatäer kannten. Einmal war ich da. Es gab keine Anzeichen für eine Quelle an dem Ort, zu dem unser Tourguide uns führte. Doch hinter Felsen verborgen ging ein kleiner Pfad in die Tiefe. Und da war ein Wasserbecken – Ginstersträucher und Schatten mitten in der toten Landschaft.
Aber es gibt nicht nur Oasen, die man suchen muss. Es gibt „Pop-up-Oasen“, die plötzlich herangeschafft werden. Ein Bekannter hat sich vor einiger Zeit einen Lebenstraum erfüllt. Für sechs Monate ist er auf dem nordamerikanischen Pacific-Crest-Trail gewandert. Man muss genügend Wasser und trostlose Instantnahrung bei sich haben, denn Versorgungsstationen sind rar. Doch es kann einem passieren, dass in der Einöde überraschend ein Pickup wartet und jemand einen Grill anzündet, aus der Kühlbox Getränke nimmt und den müden Wanderer für einen Abend von der Fertignahrung erlöst. „Trail Magic“ heißt das.

„Wanderoasen" sind die schönsten

Außerdem kenne ich noch „Wanderoasen“. Das sind die schönsten, denn sie gehen mit. Für mich sind das vor allem meine Frau und zwei gute Freunde, mit denen ich groß geworden bin. Fußball hinter der Kirche und der erste Schnaps, unsere Taufe, Lehrjahre und Studium, Hochzeit und Kinder – wir haben es miteinander erlebt und sind uns mit den Jahren zu Wanderoasen geworden. Wenn wir miteinander reden, ist Platz für unsere Fragen, Gefühle und die Ideen, die man nur als neutraler Beobachter von außen dem anderen schenken kann.

Echte Oasen sind ein unverdientes Glück. Es sind Orte, an denen wir frei aufatmen, sicher sind und bekommen, was wir am nötigsten brauchen. Hier können wir ausruhen und uns in der Begegnung mit anderen neu orientieren. Andere, die uns schließlich zum Aufbruch ins Leben ermutigen: „Bedenke, ein Stück des Weges liegt hinter dir, ein anderes Stück hast du noch vor dir. Wenn du verweilst, dann nur, um dich zu stärken, aber nicht um aufzugeben.“ (Aurelius Augustinus)

Auf den ersten Seiten der Bibel wird davon erzählt, wie Gott die Welt schuf. Als schon alles vorbereitet war, machte er den Menschen aus Erdenstaub und hauchte ihm Leben ein. Anschließend hat Gott den Menschen nicht einfach „ausgewildert“ und der Natur überlassen, damit wir uns darin einen Platz erkämpfen. Sondern Gott setzte den Menschen in einen wunderschönen, geschützten Garten, in dessen Mitte eine Quelle sprudelt. Es heißt sogar, dass Gott, wenn es abends kühler wurde, gemütlich durch die Oase schlenderte.

Wir sind die Tourguides

Ich glaube, darin liegt der Grund, weshalb aktuelle Oasenerfahrungen – so fragmentarisch und verschiedenartig sie sein können – einen Punkt in unserem Menschensein anrühren, der tiefer liegt, als unser Verstand reicht. Ganz unerwartet kommen wir mit der Wahrheit in Berührung, dass wir – und jeder Mitmensch – grundsätzlich gewollt, geliebt und bei Gott willkommen sind.

Zugleich ist hierin etwas von unserer ursprünglichen Aufgabe zu erkennen. Denen, die wir lieben, würden wir am liebsten das „Paradies auf Erden“ schaffen. Doch dazu sind wir nicht bestimmt. Wir werden vielmehr als Tourguides gebraucht, die Wege zu Quellen in der Alltagswüste erkundet haben. Manchmal kommt es auf unsere Aufmerksamkeit, Kreativität und Initiative an, dass jemand anderes „Trail Magic“ erlebt und gestärkt mit neuer Hoffnung seinen Weg fortsetzen kann. Oder wir haben die Begabung, im Laufe des Lebens unseren Mitmenschen zu immer besseren Wanderoasen zu werden.

Porträtfoto Christian Woecht

Christian Woecht ist Seelsorger im Augustinum Stuttgart Killesberg