Im Garten der Religionen
Es hat sich etwas verändert im Umgang der Religionen miteinander: Seit wir Menschen in einem Prozess der weltweiten Verflechtung immer näher zusammenrücken, ist es schwierig geworden mit der persönlichen Toleranz. Ideen werden zu Ideologien und Religion schnell zum Kampfbegriff. Wie kann da eine Zukunft aussehen, in der wir friedlich koexistieren?
Von Alexander Brandl
Wurzeln von Löwenzahn reichen tief. Die Pflanze beißt sich regelrecht fest im Untergrund. Wo er blüht, blüht er meistens auch im nächsten Jahr. Und im übernächsten. Es ist nicht leicht, Löwenzahn loszuwerden. Warum sollte man auch, dachte ich als Kind. Erst blüht er im schönsten Sonnengelb, dann verwandelt er sich zur Pusteblume. Ein perfektes Gewächs. Der Garten unserer Nachbarin: Ein Paradies. Übersäht mit gelben Blüten. Überhaupt wuchert dort alles. Ich stehe am Zaun. Nicht mehr lange, hoffe ich, dann wird sich dieser Garten in ein Meer aus flauschigen Pusteblumenballen verwandeln. Ich sehne schon die Sommerbrise herbei, die die Samenkörner mit ihren weißen Schirmchen auf unseren kurzgeschorenen Rasen wehen wird. Neben mir, auf diesem Rasen, kniet mein Vater und schüttelt den Kopf. Seine Hände stecken in Gartenhandschuhen. Er rupft, er reißt, er gräbt um. Und weiß doch: Die Sommerbrise wird kommen. Und dann beginnt alles von vorn.
Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der man beobachten konnte, wie die Kirchen jeden Sonntag leerer werden. Trotzdem war unsere Kirche voll genug, um so etwas wie ein Kleinstadtforum abzugeben. Hier trafen die aufeinander, die sich eigentlich gern aus dem Weg gingen. Mein Vater und unsere Nachbarin, zum Beispiel. Wäre Gartenbau eine Religion, er wäre der reformierte Protestant (obwohl er tatsächlich Katholik war) und sie, die Nachbarin, irgendwas Fernöstliches. Was genau, das wüsste sie vielleicht selbst nicht. Die verschiedenen Religionszugehörigkeiten prägen das Maß an Freiheit, das man einer Gartenpflanze zugesteht. Und die Sprache. Wuchert Unkraut – oder sucht sich da eine Wildblume ihren Weg?
Nun sitzen beide da, in der Kirchenbank, und nicken sich beim Friedensgruß freundlich zu. Jedes Amen sprechen sie synchron. Sie singen gemeinsam. Alle singen gemeinsam. Bei der Schriftlesung stehen sie, stehen wir. Hören alle dasselbe und hören dabei je etwas anderes. Mich hat das Einmütige am Gottesdienst schon als Kind fasziniert. Wie wir aus verschiedenen Welten kommen und für eine Stunde zusammenstehen. Als stünde vorne auf dem Altar in einer Vase ein großer Strauß Löwenzahn. Auf den können sich alle einigen.
Das waren die Neunziger. Spätestens seit dem 11. September war mir klar, dass ich auf dieses Jahrzehnt wehmütig zurückblicken würde. Und es kam so. Das Wort Religion stand für mich einst für Schöpfungslob, für „Laudato si“, für den Stuhlkreis um eine gestaltete Mitte aus bunten Tüchern. Heute ist Religion ein Kampfbegriff. Was ist los? Um im Bild zu bleiben: Der Löwenzahn. Er kann nichts dafür und ist doch schuld, meine ich. Da weht etwas von Grundstück zu Grundstück. Oder wird hinübergeblasen. Was der eine als Idee losschickt, kommt beim anderen als Ideologie an. Der Wind weht, wo er will. Längst vorbei die Zeit, in der jeder Landstrich der Welt seine eigenen Götter hatte – und dort, hinterm Berg, sind es andere. Bis heute sind mein Vater und ich uns nicht einig: Ist der Löwenzahn eine Zierpflanze oder Unkraut? Ganz ähnlich bei der Einordnung des Koran.

Pfarrer Alexander Brandl war mehrere Jahre in der Unternehmenskommunikation des Augustinum tätig und schreibt regelmäßig für das forum. Er leitet das Geistliche Zentrum im Evangelischen Kloster Schwanberg (kloster-schwanberg.de) und ist Rundfunkpfarrer im Team der Beauftragten für Hörfunk und Fernsehen im Bayerischen Rundfunk.
Die alte Gretchenfrage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ heißt heute: „Hältst du’s aus mit der Religion?“ Nicht wenige wünschen sich die Welt frei von Religionen. Dann gäbe es weniger Hass, weniger Kriege. Das höre ich oft. Vielleicht ist es nicht mal falsch. Aber solange Löwenzahn tief wurzelt und zugleich über den Wind in alle Winkel getragen werden kann, solange wird es ihn geben und solange wird er die einen erfreuen und die anderen wahnsinnig machen.
Eines Tages hat unsere Nachbarin Kirschlorbeer gepflanzt und dann war es aus. Bei diesem Thema ist selbst die Schweiz nicht neutral. Seit 2024 ist dort die Einfuhr von Kirschlorbeer verboten. Die invasive Art lässt sich kaum kontrollieren. Sprießt einfach, wo sie will. Was zu viel ist, ist zu viel – sagt die Schweiz. Und mein Vater auch. Die Bedrohungen werden vielfältiger, die Einschläge kommen näher. Kurz sah es so aus, als müsste die Kontroverse von höherer Instanz geklärt werden. Bei Nachbarschaftsstreitigkeiten ist das, wenn nichts mehr hilft, das Amtsgericht. Und wie ist es bei der Religion? Wer hat Recht? Wer spricht Recht? Wenn die Sitzung zur Causa „Welche Religion ist denn nun die richtige?“ eröffnet wird, nehmen im Gerichtssaal nur Ankläger, Zeugen und Verteidiger Platz. Die Richterin fehlt. Oder ist sie doch da? Glaubenssache.
Seit der Antike streiten Menschen, wer den schönsten Garten hat. Das frühe Christentum war eifrig beim Schreiben sogenannter Apologien. Verteidigungsschriften gegen die philosophische Mehrheitsmeinung jener Zeit. Unterstellt wurde, dass einer Recht hat. Und zwar der mit den besseren Argumenten. Ich stelle mir vor, wie mein Vater und die Nachbarin sich einvernehmlich einigen, weil sie ja grundsätzlich vernünftige Menschen sind. Und Kirschlorbeer und Löwenzahn derweil munter weiterwachsen. Ganz unempfänglich für jedes Argument. Die katholische Kirche hat die Gartenfrage inzwischen auf ihre Weise beantwortet. Alle haben Recht. Aber eine hat mehr Recht (Überraschung: sie). Bei den anderen lassen sich immerhin Spuren der Wahrheit finden. Da hilft nur noch beten, dass es sich eines Tages umkehrt und der gute und insgeheim überlegene Rasen meines Vaters sich den Nachbargarten einverleibt, weil das Unkraut von selbst zurückweicht. Geschehen noch Zeichen und Wunder?
Ich höre mich noch als Kind diplomatisch einschreiten, als ich spüre, wie die Emotionen hochkochen. „Jeder Garten ist schön“, strahle ich meinen Vater an. Es erschien mir als der klügste Weg. Garten-Pluralismus. Ja, da stehen sich verschiedene Welt- und Bepflanzungsanschauungen gegenüber. Aber können wir nicht friedlich koexistieren? Sind wir nicht eine große Menschheitsfamilie unter Gottes weitem Himmel? Ohne es zu wissen, war ich auf den Spuren des „religionstheologischen Pluralismus“ unterwegs. Er nimmt den einzelnen Menschen in den Blick. Ja, da gibt es welche, die brauchen einen Garten mit klaren Strukturen. Die brauchen eine Religion mit einem Oben und Unten. Mit einem Diesseits und einem Jenseits. Tut ihnen gut. Passt zu ihrer Persönlichkeit. Ist richtig, weil es richtig für sie ist. Andere tanzen nebenan im wallenden Leinenhemd über die Blumenwiese. Das brauchen die. Den einen macht heil, was die andere krank macht. Und andersherum. Immerhin können sich beide auf einen gemeinsamen Gegner einigen: die asphaltierte Einfahrt, eingefasst von grauen Gabionen-Wänden.
Aber da, in der Fuge, wo der Asphalt auf die Steinmauer trifft: Lugen da nicht ein Kirschlorbeerpflänzchen und ein junger Löwenzahn hervor? Schon ist es vorbei mit dem friedlichen Nebeneinanderher. Lässt sich einfach nicht trennen, was zusammengehört?
In München-Perlach erfindet ein bekannter deutscher Technologiekonzern gerade den Garten der Zukunft. Tief unter der Erde. Kaltes LED-Licht ersetzt die Sonne, Roboter gießen und versorgen die Sprösslinge und topfen sie sogar um. Hübsch ist hier gar nichts. Es geht nicht um Ästhetik. Es geht ums Überleben. Wachsende Weltbevölkerung, schwindende Ressourcen. Wie geht das zusammen? Vielleicht ist der Garten der Zukunft der Garten von vorvorgestern. Die säuberlich getrennten Parzellen vor Einfamilienhäusern – das, was wir heute als typischen Garten vor Augen haben – ist im Grunde ziemlich modern. Das Idealbild der Nachkriegszeit. Im Garten Eden, bei Adam und Eva, ging es noch um die Wurst, als es um die Frucht ging. Es ging um alles, ums große Ganze. Um unsere Existenz. Was ist Wahrheit? Wer bin ich auf dieser Erde? Und habe ich morgen genug zu essen?
Der Garten der Zukunft ist vielleicht einer, den wir gemeinsam bewirtschaften. Wo einer zähneknirschend den Löwenzahn aushält, seit er weiß: Mit dem richtigen Dressing gibt das einen wunderbaren Salat. Und wo eine still schweigt, wenn der andere mit dem Rasenmäher ein Stück Wiese kurzraspelt, bis jeder Halm dieselbe Länge hat. Weil sie gemerkt hat: Nur da kann ich mein Handtuch ausbreiten und darauf mein Buch lesen, ohne dass es piekt.
Und genau in die Mitte sollten wir einen Baum pflanzen. Wir nennen ihn ganz großspurig „Baum der Erkenntnis“. Und wenn eine Sommerbrise durch seine Krone weht und die Blätter zum Rascheln bringt, klingt es fast, als wäre da eine Stimme. „Dieses Geheimnis ist euch zu groß“, rauscht es über die Felder. Na dann, lasst uns einfach weitergraben und sähen und pflanzen. Bald ist Feierabend. Dann geht die Sonne unter. Und morgen geht sie wieder auf.