Nachbarschaft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war: Das, was sich einst auf der Straße oder im Hof zutrug, findet heute ebenso im virtuellen Raum statt, und aus einer existenziellen Notwendigkeit ist eine unverbindliche Zusammenkunft geworden. Die verschiedenen Nuancen in diesem zwischenmenschlichen Geflecht sind dabei erstaunlich gleich geblieben.
Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.
Aus Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Berlin 1851
Ein Blick auf die Herkunft des Wortes zeigt, wie sich Nachbarschaft im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat: Nachweisbar ist der Begriff bereits im 8. Jahrhundert als „Nahgebur“, was man mit „der nahe Bauer“ übersetzen kann. Nachbarn waren durch ihre Tätigkeit und die räumliche Nähe miteinander verbunden, und Nachbarschaft war in der damaligen landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft eine Notwendigkeit, etwa, wenn es darum ging, sich bei der Ernte oder bei Unwettern zu helfen. Mit der seit der Industrialisierung zunehmenden Trennung von Wohnen und Arbeiten hat sich auch die Art der Nachbarschaft gewandelt: Die Menschen sind nicht mehr existenziell auf ihre Nachbarn angewiesen; die Kontakte zu ihnen sind freiwillig und es geht dabei mehr um Freizeit und Konsum. Nichtsdestotrotz ist die Bedeutung von Nachbarschaft auch heute nicht zu unterschätzen: Das Schwätzchen über den Gartenzaun, die nachbarschaftliche Versorgung der Blumen während des Urlaubs, das Aushelfen mit Kleinigkeiten schaffen Beziehungen, die eine gute Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft sind.
Christoph ist auch online. Hey, ist ja klasse! Schnell schreibe ich ihn mithilfe des Messangers an. „Was machst du gerade? Eben habe ich an dich gedacht, und schon sehe ich dich auf der Plattform!“ Die digitale Welt lässt Menschen, die geographisch weit auseinander liegen, plötzlich Nachbarn werden. Über Tausende von Kilometern können wir uns anstupsen, auf die Schultern klopfen und gernhaben, indem wir uns „liken“. Mit einem ehemaligen Kollegen habe ich mich so ganz spontan über die Erlebnisse seines Krankenhausaufenthaltes unterhalten. Er teilte seine philosophischen und religiösen Einsichten mit mir, und der Himmel war auf einmal unser Nachbar. Die digitale Welt kann Menschen einander näherbringen, wenn wir es verstehen, Worte und Bilder gut einzusetzen und unsere Gefühle zu kommunizieren. Das Gespräch mit dem Kollegen über seine Krankheit ist mir jedenfalls nahegegangen, und er wird mir so immer nahe bleiben.
Das Schild am Eingang vieler französischer Ortschaften wirkt nicht unbedingt freundlich: ein weit geöffnetes Auge in schwarzen Konturen auf signalgelbem Hintergrund und darüber in ebenfalls schwarzen Lettern: Voisins Vigilantes. Auf Deutsch übersetzt: Wachsame Nachbarn. Nachbarschaftswachen gibt es in vielen Ländern; es sind privat organisierte Gruppen von Bürgern, die sich zusammengeschlossen haben, um gegen Kriminalität und Vandalismus anzugehen, und tatsächlich sind zum Beispiel in Österreich Eigentumsdelikte aufgrund von Nachbarschaftswachen messbar zurückgegangen. In Deutschland tut man sich historisch bedingt schwerer mit dieser Form der privat organisierten Verbrechensbekämpfung: Zu sehr sind noch Überwachung und Denunziation durch die Blockwarte der NS-Zeit im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Grenzen zwischen Wache und Wehr scheinen fließend, und das, was die Kriminalität bekämpfen will, kann schnell selbst strafbar werden.
Ein wenig um die Ecke gedacht ist die Idee schon: Über eine digitale Plattform kommen Menschen in Kontakt, die in einem Stadtviertel wohnen, tauschen sich aus und treffen sich am Ende wieder ganz real. Das 2015 gestartete Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de verlagert das, was sich ehemals beiläufig beim Bäcker, beim Abholen der Kinder aus dem Kindergarten oder beim Kehren der Straße ergab, in die digitale Welt. Wer teilnehmen möchte, muss nachweisen, dass er in einer auf der Plattform bestehenden Nachbarschaft wohnt, einem Dorf oder Stadtteil mit ein paar Hundert bis ein paar Tausend Einwohner*innen, sich auf der Website registrieren, und schon eröffnet sich ein ganzes Kaleidoskop an Möglichkeiten: Man kann Dinge verschenken, eine Wohnung suchen oder Tipps für Arztpraxen finden, Kommentare von Nachbarn lesen, die sich über abgestellte E-Roller aufregen und auf Demonstrationen hinweisen, Hunde- oder Babysitter finden, einer Lauf- oder Lesegruppe beitreten oder einfach mal schauen, was die Nachbarn so posten – über den Umweg des Smartphones, aber doch ganz wie im echten Leben.
Noch ein Thema unserer Zeit: Nachdem der Handel zunehmend vom Kaufhaus zur online-Plattform übergeht, nimmt auch das Aufkommen von Paketen gigantische Ausmaße an. Nach Zahlen des Parcel Shipping Index wurden 2022 täglich 11,5 Millionen Pakete in Deutschland verschickt. Aber wer soll diese ganzen Sendungen annehmen, wenn die meisten Menschen tagsüber nicht zuhause, sondern an ihrem Arbeitsplatz sind? Die gute alte Nachbarschaftshilfe gerät hier schnell an ihre Grenzen. Wenn sie nicht ausgewogen ist, wenn Pakete beschädigt sind oder gar einfach im Treppenhaus abgelegt, ohne bekannten Empfänger oder Absender, kann der Dienst am Nachbarn schnell unerquicklich werden und im schlimmsten Fall sogar böse Haftungskonsequenzen haben. Andererseits: Die vielen Pakete und Päckchen lassen auch muntere Spekulationen über ihren Inhalt und damit über die Lebensweise der Nachbarn zu – und am Ende lernt man den Unbekannten von nebenan dann auch persönlich kennen, wenn er sein Paket abholt
Fotos: ki (ps), top (1); Abel Grimmer, "Der Sommer", Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen, gemeinfrei (2); pixabay, Nika Akin (3); shutterstock, 1sylv1rob1 (4); Screenshot (5); picture alliance / dpa Themendienst (6)