Buch- und CD-Tipps

Lesen und Hören

BUCHTIPP

Wann ist ein Leben gelungen?

Von Antje Bohnhorst

Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, heißt es. Christoph Wortberg wurde durch den Spitznamen „Gussie“ auf die Frau aufmerksam, die an der Seite eines der bedeutendsten deutschen Politiker stand: Wer war die Frau, die 1919 den fast 20 Jahre älteren Witwer mit drei Kindern, Konrad Adenauer, heiratete? Wortberg nähert sich dem Leben dieser Frau, die viel mehr war als die „Frau an seiner Seite“, vom Ende ihres Lebens her: Während eines Krankenhausaufenthalts erinnert sich Auguste Adenauer 1948 an die Stationen ihres Lebens: Kennenlernen, Heirat, ihre Rolle als Stiefmutter, die fünf eigenen Kinder, die Karriere ihres Mannes, die politischen Entwicklungen bis hin zum Nationalsozialismus, Repressalien und vor allem der Umgang miteinander als Paar. Die Biographie Gussie Adenauers wird nicht linear erzählt. Auf diese Art werden nach und nach ihre Persönlichkeit und die Beziehung zu ihrem Mann sichtbar und auch, wie ihre Erkrankung mit den Zeitläufen verbunden ist. Immer wieder stellt sich Gussie die Frage, wann ein Leben als gelungen gelten kann. Eine ergreifende Lektüre über eine ungewöhnliche Frau.

Christoph Wortberg: „Gussie“, dtv 2024, 287 Seiten, 24 Euro

CD-TIPP

Musikalische Winterreisen

Von Heidemarie Egen

In diesem Jahr feiert die Lautten Compagney Berlin ihr vierzigjähriges Bestehen. Das Ensemble hat sich durch seine Aufführungen Alter Musik große Wertschätzung verdient. Musiker und Sänger begeistern das Publikum weltweit. „Winter Journeys“, vom Dirigenten mit „Musik auf dem Weg nach Hause“ ergänzt, ist eine ganz besondere Aufnahme. Reisen im Winter ist naturgemäß beschwerlich und voller Gefühlsschwankungen durch Naturbilder, Einsamkeit, Weihnachten, Sehnsucht nach dem Frühling, Vogelgezwitscher. Der Lautten Compagney ist es gelungen, passend zur Jahreszeit, einen musikalischen Genuss zu präsentieren!

Lautten Compagney Berlin, „Winter Journeys“, Deutsche Harmonia Mundi 2023, 19,99 Euro

 

BUCHTIPP

Flucht auf dem Philosophenschiff

Von Heidemarie Egen

Eine Einladung zum 100. Geburtstag einer der bekanntesten europäischen Architektinnen des 20. Jahrhunderts erhält man nicht alle Tage. Der Österreichische Ingenieur- und Architekten-Verein veranstaltet zu Ehren der Jubilarin Anuok Perleman-Jacob ein festliches Abendessen. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin wird Michael Köhlmeier zur Feier eingeladen. Sein Ruf als Schriftsteller eilt ihm voraus, weshalb sie ihn bittet, ihr ganz privates Leben aufzuschreiben – keine Biografie, denn diese ist schon mehrfach veröffentlicht. Anouk-Perleman-Jacob nimmt den Autor mit auf die Reise in ihre Vergangenheit, die in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts zurückführt, in die Zeit ihres Erwachsenwerdens in den Bürgerkriegsjahren, umgeben von ihren Eltern, Freunden in der unvergleichlich schönen Stadt St. Petersburg. Und hier endet 1922 das normale Leben. Mit ihrer Familie und zehn weiteren Personen wird sie auf das Philosophenschiff verfrachtet, das sie ins Exil bringen soll. Warum, wieso, wohin – keiner weiß es! Anouk Perleman-Jacob hat dies und noch vieles andere er- und überlebt. Ihr Leben bleibt bis zu ihrem Tod interessant und aufregend – dafür steht Michael Köhlmeier.

Michael Köhlmeier, „Das Philosophenschiff", Hanser Verlag 2024, 224 Seiten, 24 Euro

CD-TIPP

Leonard Cohen und die Renaissance

Von Antje Bohnhorst

Der amerikanische, in München lebende Bass- und Lautenist Joel Frederiksen ist als Experte für Alte Musik international renommiert (u.a. „Boston Camerata“, Opernproduktionen, „Ensemble Phoenix Munich“). Als Sänger, der sich selbst auf der Laute begleitet, gilt sein Interesse auch Liedermachern der heutigen Zeit im Dialog mit Liedern der Renaissance. Mit dem Album „A day with Suzanne. A tribute to Leonard Cohen“ ist es ihm gelungen, die verschiedenen musikalischen Ebenen feinsinnig zu verschränken. Passend zu den für Gesang/Laute (Joel Frederiksen, Bass, Emma-Lisa Roux, Sopran) und Gambe (Hille Perl, Domen Marinčič) bearbeiteten Songs von Cohen wählte er Kompositionen, die die lyrischen Motive ergänzen und kommentieren. So fügt die gegenseitige Durchdringung von „Suzanne“ mit „Susanne un jour“ von Orlando di Lasso dem Cohen-Song neue Facetten hinzu, ebenso der Abschied in „Adieu mes amours“ von Josquin des Prez mit „Hey, that’s no way to say goodbye“. „Dance me to the end of love“ wechselt sich ab mit Renaissancetänzen, „Bird on a wire“ mit Nachtigall-Tönen aus der Barockzeit. „So long, Marianne“, das Sterben einer Liebe, wird kunstvoll verschränkt mit „Le Phoenix“ von De Vincent. Zum Abschluss der CD bekommt „Hallelujah“ eine festlich jubilierende Note durch die Verschränkung mit dem „Hallelujah“ aus dem „Evening hymn“ von Henry Purcell. Der warme Bass von Joel Frederiksen und der schöne Sopran von Emma-Lisa Roux tragen zum akustischen Genuss dieses Albums bei.

Joel Frederiksen & Ensemble Phoenix Munich: „A day with Suzanne. A tribute to Leonard Cohen“, Deutsche Harmonia Mundi/Sony Classic 2023, 19,99 Euro

BUCHTIPP

Wasser, Wellen, Strand

Von Heidemarie Egen

Zu den besonders beliebten Urlaubszielen gehört das Meer, gehören Sehnsuchtsorte an Küsten und Stränden mit Blick übers Wasser zum weit entfernten Horizont. Wechselnde Stimmungen und Erscheinungsformen der Natur sind Glücksmomente für Menschen, die sich von Alltäglichem befreien, neue Gedanken und Ideen finden und andere Wege gehen wollen. Namhafte Autoren und Autorinnen haben am Wasser, vornehmlich im Ostseeraum, gelebt. Die Natur und das gesellschaftliche Umfeld haben auf vielfältige Art ihre schriftstellerische Arbeit inspiriert. Daraus hat die Autorin Auszüge zusammengestellt, Biografisches hinzugefügt und Einblicke in Leben und Gedankenwelt der Schreibenden geschaffen: So ist für Else Lasker-Schüler Kolberg die „Meereshauptstadt“; für George Grosz die Ostsee seine „Seelenlandschaft“; Max Frisch fühlt sich auf Sylt so „herrgöttlich“ wohl, und Siegfried Lenz ist von den „schafwolligen Schaumkronen“ fasziniert. Heinrich Heine präsentiert sich kühn als „Hofdichter der Nordsee“, und Mendelssohn-Bartholdy wird zur Hebriden-Ouvertüre inspiriert. Charmante lesenswerte Geschichten!

Kristine von Soden, „Schreiben am Meer. Wo der Himmel größer ist“, Transit Buchverlag 2024, 160 Seiten, 18 Euro

BUCHTIPP

Eine kleine Philosophie der Gelassenheit

Von Heidemarie Egen

Das kleine Haus am Sonnenhang im Piemont ist nicht leicht zu erreichen. Abseits von den Verkehrswegen und Dörfern steht das steinerne kleine Landhäuschen mit Holzschuppen und Ziegenstall an einem terrassierten Sonnenhang. Um hinzukommen, muss man ein Bachbett durchqueren, bei Trockenheit und geschicktem Fahren geht’s auch mit dem Auto. Alex Capus hat es für ganz wenig Geld gekauft. Hier arbeitet er in den Sommermonaten, freut sich über häufige Besuche seiner Freunde und natürlich besonders auf die Aufenthalte seiner Freundin Nadja. Im nächstgelegenen Städtchen ist er rasch bekannt und akzeptiert worden, was für ihn spricht wie so manches andere. Der Jahreszeitenwechsel ist hier spürbar: Der Winter steht vor der Tür, draußen schneits, und drinnen wirds kalt. Also kauft er sich einen Kachelofen, in den er nach Bedarf Holz nachlegt, sich wohlig aufs nebenstehende Sofa fläzt und seinen Gedanken freien Lauf lässt. Was dabei rauskommt, lesen wir interessiert und bestens unterhalten in diesem hübschen Buch.

Alex Capus, „Das kleine Haus am Sonnenhang“, Hanser Verlag 2024, 160 Seiten, 22 Euro

BUCHTIPP

Ohne Fraktur keine Ossifikation

Von Christian Topp

Was ist nur los im deutschen Osten? Diese Frage hört man immer wieder. Der Soziologe Steffen Mau hat im vergangenen Jahr ein schmales Bändchen veröffentlicht, das eine Antwort auf diese (vor allem westdeutsche) Frage verspricht. Seit seinem 2019 erschienenen Bestseller „Lütten Klein“ gilt er „als eine Art Haussoziologe der Ostdeutschen“ (C. Pollmer). Sein neues Buch „Ungleich vereint“ arbeitet sich auf angenehm undogmatische Weise an der These ab, dass trotz aller durchaus erfolgreichen Angleichungsbemühungen dauerhafte Unterschiede zwischen Ost und West bleiben werden. 35 Jahre nach dem Mauerfall ziehe sich immer noch eine Phantomgrenze durch das Land. Wenn man so unterschiedliche Indikatoren wie Eigentumsquote, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, Patentanmeldungen, Zahl der Tennisplätze, durchschnittliche Lebenserwartung von Männern u.a. auf eine Deutschlandkarte farblich projiziert, werden zwangsläufig die historischen Umrisse von DDR und BRD sichtbar, so seine Beobachtung.

Ostdeutsche Biografien sind geprägt von Frakturen, von Brüchen im Lebenslauf. Diese bereits in seinem Lütten-Klein-Buch ausgebreitete These ergänzt Mau nun durchaus originell um den medizinischen Begriff der „Ossifikation“. Das kann Verknöcherung bedeuten, aber auch Knochenbildung, Regeneration nach einem Bruch und Narbenbildung. Als Gedankenspiel – wie Mau es versteht – eröffnet dieser Begriff ein weites und deutungsoffenes Feld. Narbengewebe juckt, mal mehr, mal weniger. Die Erfahrung, dass die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft zwar ein sehr feines Sensorium für eigene Befindlichkeiten entwickelt hat, aber beim Blick auf die „fünf neuen Länder“ die Vernarbungen der „anderen Deutschen“ völlig unsensibel ignoriert, hat auch dazu beigetragen, dass sich laut Mau ein „eigenständiger Kultur- und Deutungsraum Ostdeutschland“ herausgebildet hat – eine ostdeutsche Teilidentität. Der vielbeschworene „Aufbau Ost“ war größtenteils ein „Nachbau West“. Die Grundannahme, dass der Osten nur lang genug aufholen müsse, um automatisch zum Westen zu werden, erinnert in seiner Erfolglosigkeit an Walter Ulbrichts 1969 formuliertes Ziel der DDR-Wirtschafts- und Sozialpolitik: überholen ohne aufzuholen. Womöglich aber ist der Osten gar kein Nachzügler mehr, sondern längst ein Vorreiter. Mau verweist in seinem Buch auf ostdeutsche Entwicklungen, die längst den Westen erreicht haben: mangelnde Parteienbindung, Vertrauensschwund in Institutionen, rechtspopulistische Mobilisisierung.

Was also tun? Steffen Mau macht ein paar Vorschläge, die durchaus einen gesamtdeutschen Horizont öffnen. Er kann sich vorstellen, dass in Anknüpfung an die kurze Aufbruchszeit der DDR zwischen Mauerfall und deutscher Einheit Ostdeutschland zu einem „Labor der Partizipation“ werden könnte. Wo Parteien, Institutionen, bürgerschaftliche Initiativen keine Rolle mehr spielen, helfen Spielformen der direkten Demokratie möglicherweise weiter: Bürgerräte, runde Tische, Bürgerdialoge und andere Formen der Mitbestimmung jenseits von Parteien und Organisationen. Es ist eine Rückbesinnung, eine Wiederbelebung. Denn im heftigen Schlagschatten, den die deutsche Einheit auf sie geworfen hat, sind die meisten der zwischen 1989 und 1990 aufkeimenden basisdemokratischen Pflänzchen im Osten ganz schnell wieder eingegangen.

Steffen Mau: „Ungleich vereint“, edition suhrkamp 2024, 168 Seiten, 18 Euro

BUCHTIPP

Das himmlische Kind

Von Heidemarie Egen

„Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, heißt es im Märchen. Alain Corbin erzählt von diesem Zauber, indem er die von Menschen im Laufe der Zeit gesammelten Erkenntnisse spannend zusammenfügt. Heute weiß man viel über Ursachen und Wirkungsweisen des unsichtbaren Elements. Das „himmlische Kind“ ist immer da, spürbar, mal als freundlich säuselnder Begleiter, mal als tobender, ja gefährlicher Rüpel. Er beherrscht das ganze Spektrum, vor allem akustisch. Man hört ihn, ist entsetzt über die Zerstörung, die er anrichtet, und auch wieder geschmeichelt von zärtlicher Berührung. Beeindruckende Forschungsergebnisse helfen den Menschen, mit dem luftigen Element und seinen überraschenden Eigenschaften klarzukommen. Das Buch enthält sachliche und emotionale Schilderungen des Windes im Hochgebirge, im Flachland, in Wüstenregionen, an See- und Meeresufern und von seinen Wirkungen auf Fauna und Flora. Im Ganzen dürfen wir aus allem die Erkenntnis ziehen: Nicht wir Menschen beherrschen den Wind, er beherrscht uns! Ein hochinteressantes Buch.

Alain Corbin, „Himmelsbesen und Höllentäler“, Marix Verlag 2023, 176 Seiten, 22 Euro

CD-TIPP

Tanzmusik aus sieben Jahrhunderten

Von Heidemarie Egen

Den Anfang dieses Albums macht natürlich ein Walzer, jedoch kein Wiener, sondern ein besonders romantischer von Schostakowitsch. Strenger wird‘s sogleich mit Saint-Saens „Danse macabre“, einem kurzen Schritt zu Prokofiev, zum „Pas de deux“ aus Schwanensee und leichtfüßig hin zu Mozart, Schubert, Bizet, Bartok und viele weitere Partien von berühmten Komponisten. In der 2. CD setzt sich die tänzerische Thematik durch die Jahrhunderte fort. Lassen Sie sich überraschen von den vielfältigen Musikstücken aus vergangenen Jahrhunderten, attraktiv und im wörtlichen Sinne bewegend bis heute, dank der großartigen Interpretation der Musiker!

Daniel Hope und Zürcher Kammerorchester, „Dance!“, Deutsche Grammophon 2024, 2 CDs, 22,99 Euro