Von Wiederbegegnungen und ehrenamtlichem Engagement

Nachbarschaftsgeschichten aus den Augustinum Seniorenresidenzen – Teil 1

Texte und Fotos von Christian Topp

Zwei Seniorinnen halten ein Foto von sich aus jüngeren Jahren in die Kamera
Lisbeth Herzog (li.) und Ute Metz haben sich im Augustinum wiedergetroffen. In der Hand halten sie ein Foto aus den 1980er Jahren, das sie bei einer Veranstaltung des Turnvereins Radolfzell zeigt.

1. Wiedersehen in Überlingen

Schwer zu sagen, ob man diese besondere augustinische Nachbarschaftsgeschichte auch ohne Günther Trautmann erzählen kann. Zumindest kommen Ute Metz, Lisbeth Herzog und ihr Mann Edgar immer wieder auf ihn zu sprechen. Trautmann muss man sich als Menschenfänger vorstellen, als einen, der schnell in Kontakt gekommen ist, unterhaltsam war und andere inspiriert hat. Lisbeth Herzog erinnert sich noch an die erste Begegnung: „Das muss 2020 gewesen sein, kurz nachdem mein Mann und ich ins Augustinum hier in Überlingen gezogen waren. Es gab einen Spaziergang mit Hausbewohnern. Da habe ich ihn kennengelernt und mich gleich mit ihm angefreundet.“

Trautmann, der im vergangenen Jahr mit 93 Jahren gestorben ist, war Zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Akkordeonspieler. Auch Lisbeth Herzog hätte dieses Instrument in ihrer Jugend gern gespielt: „Aber von meinen Eltern habe ich kein Akkordeon bekommen, weil ich nicht Geige lernen wollte. Das war ihre Vorbedingung.“ So blieb es bei der Blockflöte. Und auch die landete irgendwann in der Schublade und setzte Staub an – bis 40 Jahre später der passionierte Akkordeonspieler sie ermutigt, die Flöte wieder hervorzuholen, um im Advent mit ihm gemeinsam zu musizieren. Bei einem der Adventscafés, die bald zur Tradition werden sollten, stellt Edgar Herzog fest, dass Günther Trautmann früher auch in seiner Heimatstadt Aschaffenburg gelebt und musiziert hat: „Wie? Was? Im Café Hubertus in Haibach. Da bin ich mit 19 Jahren zum Tanzen hingegangen. Da hast du damals Musik gemacht“, erinnert er sich lebhaft an den Moment der Erkenntnis.

Doch dabei soll es nicht bleiben. Birgit Schmehling, die auch im Augustinum lebende Altersgefährtin Trautmanns, und Lisbeth Herzog kommen irgendwann darauf, dass sie eine gemeinsame Bekannte haben: Ute Metz, die mittlerweile ebenfalls im Augustinum Überlingen lebt. Mit ihr zusammen wurde Schmehling 1949 in Rastatt eingeschult. Später verlieren sich beide aus den Augen, bevor sie sich Anfang der 2000er-Jahre wiederbegegnen. Lisbeth Herzog wiederum kennt Metz seit ihrer gemeinsamen Zeit im Turnverein Radolfzell in den 1980er-Jahren. Und Ute Metz? Sie ist dem Musiker Trautmann vor Jahrzehnten auch schon begegnet. Die Treffen der Naturfreunde Rastatt begleitete er damals mit seinem Akkordeon.

Wenn Metz, Schmehling und die beiden Herzogs heute zusammenkommen, dann lebt die Erinnerung an Trautmann und sein Akkordeon weiter. Zum Beispiel an den Mai 2024, als in kleinem Rahmen Edgar Herzogs Geburtstag nachgefeiert wurde. Lisbeth Herzog kann die Stücke von damals noch aufzählen: „ ... ein paar Wiener Schrammeln im Stil von Hans Moser. Das ‚Lied des Bajazzo‘. Und zum Abschluss ‚Kein schöner Land‘, bei dem wir uns alle an den Händen gehalten haben.“ Es sollte Günther Trautmanns letztes Konzert sein.

 

Ernst Roeckl lehnt an seinem Auto und schaut in die Kamera

2. Plädoyer fürs Ehrenamt

Ernst Roeckl ist ein Spätheimkehrer. Das sagt er zumindest über sich selbst. Aufgewachsen ist er in Tutzing am Starnberger See, in Weilheim ist er zur Schule gegangen und hat dann in München studiert. Der promovierte Physiker lehrte als Professor und widmete sein Forscherleben voll und ganz der Experimentalphysik. Dabei ist er herumgekommen in Europa: Er hat in Frankreich, Polen, der Schweiz gelebt und gearbeitet und viele Jahre in Darmstadt gewohnt. Erst nach seinem Ruhestand ist er zurückgekehrt ins oberbayerische Fünfseenland – vor allem, weil er sich in der Landschaft seiner Kindheit schon immer sehr wohl gefühlt hat.

Seit 10 Jahren lebt der mittlerweile 87-Jährige nun im Augustinum Dießen am Ammersee. Spricht man ihn auf das Thema Nachbarschaft an, dann hört man aus seiner Antwort den klar formulierenden Wissenschaftler heraus. Das Augustinum sei ja gut aufgestellt mit seinen Aktivitäten für die Bewohnerinnen und Bewohner, sagt er: „Und ab und zu beteilige ich mich auch auch gern daran. Aber mein Fokus liegt eher auf der Welt da draußen.“

In dieser Welt engagiert er sich für das, was ihm wichtig ist – die ökologische Wende zum Beispiel. Als Wissenschaftler hält er den Klimaschutz für die entscheidende gesellschaftliche Herausforderung der Gegenwart. Auch deshalb sitzt er im Vorstand des Kreisverbands des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) und organisiert in der Seniorenresidenz eine Fahrradgruppe, die am deutschlandweiten Projekt „Stadtradeln“ teilnimmt. Zwei Wochen lang werden dabei die gefahrenen Kilometer aller Gruppen-Mitglieder aufgeschrieben und summiert. „Die Platzierung ist am Ende nicht wichtig“, erzählt Roeckl, „es ist eher ein Spiel, das die Leute aktivieren soll. Und im Idealfall auch eine gemeinsame Aktivität von Bewohnern und Mitarbeitern.“

Vor einigen Jahren hat Roeckl den lokalen Carsharing-Trägerverein mitbegründet und durchgesetzt, dass aktuell eines der drei Dießener Autos seinen angestammten Parkplatz am Augustinum hat. Er findet, dass alte Menschen, die noch dazu in der Lage sind, unbedingt etwas zum Gemeinwesen beitragen sollten, am besten im Ehrenamt: „Es ist doch nicht gut, wenn ein Drittel der Menschen gar nichts mehr für die Gesellschaft tut.“ Auch deshalb ist er alle zwei Wochen in aller Früh als Schulweghelfer auf den Beinen. Und erst vor kurzem wurde er als Nachrücker in den Marktgemeinderat Dießen vereidigt. Wenn alles nach Plan läuft, wird er dort im Kleinen dazu beitragen, dass die Welt im Großen noch ein wenig lebenswerter wird.

 

 Barbara Wrage reicht der Verkäuferin eines Gemüsestandes eine rote Paprika

3. Die Ritterin der Tafelrunde

Viel Zeit hat Barbara Wrage gerade nicht, denn in ein paar Tagen wird sie heiraten – „zum dritten Mal“, wie die 81-Jährige freimütig erzählt. Ihren neuen Partner hat sie im Augustinum kennengelernt, in das sie ein paar Jahre nach dem Tod ihres Mannes gezogen ist – von Mölln nach Mölln. Doch bevor wieder geheiratet wird, gibt es noch einiges zu erledigen. Heute, an einem Dienstagvormittag zum Beispiel, wird sie wie so oft in den vergangenen Jahren als Ehrenamtliche bei der Möllner Tafel mitarbeiten.

Zweimal in der Woche, am Dienstag und am Freitag, finden sich im Gemeindezentrum der Heilig-Geist-Kirche im Süden von Mölln ehrenamtliche Männer und Frauen ein, um Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen. Über die Jahre hat sich dabei ein effektives System eingespielt. Berechtigte erhalten einen nummerierten Ausweis, der ihnen den Zugang zu den Leistungen der Tafel ermöglicht: Obst und Gemüse, Käse und Fleisch, Brot und Milch – nicht mehr ganz frisch, aber noch gut genießbar. Als Älteste unter den Ehrenamtlichen überprüft Barbara Wrage an der Tür die richtige Einlass-Reihenfolge, die sich aus Gerechtigkeitsgründen wöchentlich ändert. Sie vermerkt den Besuch in einer Liste und kassiert von jeder Familie zwei Euro.

Bei der Tafel engagiert sich Barbara Wrage seit mehr als acht Jahren: „Eine Freundin von mir war damals schon dabei. Sie hat mich für die Idee begeistert. Und ich muss sagen: Es bereitet wirklich große Freude, wenn man helfen kann.“ Kathrin Schlie, Leiterin der Tafel und seit gut 40 Jahren mit Barbara Wrage befreundet, pflichtet ihr bei. Und überhaupt: Ohne das Ehrenamt, darin sind sich beide einig, „würde der Staat nicht funktionieren.“ Mit Sorge beobachten sie deshalb, dass immer weniger Menschen bereit sind, sich unentgeltlich zu engagieren. „Die Gesellschaft wird egoistischer", findet Barbara Wrage. „Dagegen müssen wir was unternehmen.“ Und Kathrin Schlie bekräftigt: „Ich glaube, dass wir als Bürgerinnen und Bürger nicht nur Rechte haben, sondern auch Pflichten. Und für mich gehört das Ehrenamt einfach dazu.“

Die Arbeit der Tafeln ist in den vergangenen Jahren nicht einfacher geworden. Das merken sie auch in Mölln. Nicht nur durch die beiden Flüchtlingswellen aus Syrien und der Ukraine hat die Zahl der Bedürftigen deutlich zugenommen. Auch die Wirtschaftsprozesse haben sich grundlegend verändert. „Ware kurz vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum, die früher bei uns gelandet wäre, kommt in den Supermärkten heute zu verbilligten Preisen in den Abverkauf“, hat Kathrin Schlie beobachtet. „Die fehlt uns natürlich jetzt.“ Die unglaubliche Erfolgsgeschichte der Tafeln schmälert das nicht. Einst sind sie angetreten mit dem Ziel, die Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen. Mission erfüllt.