Vom Kindergarten, Stockwerkpartys und einem Lesetraining

Nachbarschaftsgeschichten aus den Augustinum Seniorenresidenzen – Teil 2

Texte und Fotos von Christian Topp

Seniorin an einem Tisch umringt von vier Kindergartenkindern

4. Die Kinderflüsterin

Das „Abenteuerland“ liegt nur 100 Meter vom Augustinum Roth entfernt. Gerade herrscht Hochbetrieb dort, und doch strahlt alles eine heitere, durchaus entspannte Atmosphäre aus: Kleine Gruppen von Kindern haben sich zum gemeinsamen Spiel zusammengefunden, andere leben im breiten Flur ihren Bewegungsdrang aus, manch ein Kind beschäftigt sich ein wenig abseits intensiv mit irgendwelchen ganz, ganz wichtigen Sachen. Hier, in den großzügig gestalteten Räumen der vor zwei Jahren eröffneten AWO-Kindertagesstätte kennt man keine Frau Benkler, sondern nur die Lissy. Denn so wird sie von den Kindern gerufen. Und das gefällt ihr.

Lissy Benkler ist fast jeden Tag im Kindergarten – und dort auch ein besonders gern gesehener Gast, wie die Erzieherinnen betonen. „Ursprünglich ging es ja nur um Lesepatenschaften“, erzählt die mittlerweile 86-Jährige, die seit 16 Jahren in der benachbarten Augustinum Seniorenresidenz lebt: „Und dann bin ich gleich rüber und habe der Erzieherin gesagt, dass ich mit den Kindern lieber töpfern möchte.“ Das mit dem Töpfern hat sich dann zwar nicht bewährt. „Zu filigran, zu kompliziert“, wie sie bald feststellen muss. „Aber dann habe ich gefragt, ob ich nicht einfach mal so kommen kann. Und die Leiterin hat gesagt: Klar, komm doch!“

Seitdem schaut Lissy Benkler regelmäßig vorbei: Wenn sie vom Einkaufen kommt, wenn sie in der Stadt etwas erledigt hat oder einfach nur so, ganz ohne äußeren Anlass. Und warum ist sie bei den Kindern so beliebt? Wahrscheinlich, weil sie ihnen auf Augenhöhe begegnet, weil sie ihnen Mut macht, sich auszudrücken, weil sie mit ihnen malt und weil sie eine Güte und Freundlichkeit ausstrahlt, die ansteckend ist.

Betrachtet man ihren Lebensweg, dann ist das nicht selbstverständlich. Als sie 1938 geboren wird, kann ihre Mutter nicht ins Krankenhaus, weil deutsche Truppen gerade als Folge des Münchner Abkommens in Eger, dem heutigen Cheb, einmarschieren. Auf den Straßen wird geschossen. Die Neugeborene überlebt nur knapp. Als Kind erlebt sie Vertreibung und Neuanfang, viele Jahrzehnte leidet sie unter mangelndem Selbstwertgefühl und einer übermächtigen Mutter. Als in den 1970er-Jahren bei ihr eine Depression diagnostiziert wird, markiert das einen Wendepunkt. Aus der Behandlung tritt sie erstarkt ins Alltagsleben zurück.

Wenn Lissy Benkler heute regelmäßg im Kindergarten vorbeischaut, dann schließt sich auch ein Kreis in ihrem Leben. Denn direkt nach der Schule hat sie eine Ausbildung im Kindergärtnerinnen-Seminar gemacht und später einige Jahre in dem Beruf gearbeitet. Nach der Hochzeit ist damit Schluss. Wie damals üblich, kümmert sie sich danach um den Haushalt, ihren Ehemann und die Kinder. Dass sie in der Zwischenzeit nichts verlernt hat, sieht man an den Kindern im „Abenteuerland“. Sie freuen sich jedes Mal, ihre Lissy zu sehen, umringen sie, malen mit ihr, unterhalten sich, haben Spaß.

 

Dr. Hilma Albrecht mit Jugendlicher der Otto-Steiner-Schule beim Lesen. Auf dem Foto ist sie mit Nafesa zu sehen.
Einmal in der Woche unterstützt Dr. Hilma Albrecht Jugendliche der Otto-Steiner-Schule beim Lesen. Auf dem Foto ist sie mit Nafesa zu sehen.

5. Die Lesehilfe

„Also, in früheren Zeiten hätte ich sicher Berührungsängste gehabt“, sagt Dr. Hilma Albrecht mit dieser speziellen, leichten Sprachfärbung, die an ihre Wiener Jugendzeit erinnert: „Zu Menschen mit Behinderung hat meine Generation ja immer Abstand gehalten.“ Von diesen Berührungsängsten ist bei ihr aber nichts zu spüren, oder besser wohl: nichts mehr. Seit zwei Jahren unterstützt die 84-Jährige einmal wöchentlich Schülerinnen und Schüler der Otto-Steiner-Schule beim Lesen. Mehr augustinische Nachbarschaft geht nicht. Denn im Münchner Norden grenzt die Augustinum Seniorenresidenz direkt an das Gelände der Otto-Steiner-Schule. In der staatlich anerkannten Augustinum-Einrichtung mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsverzögerung in kleinen Klassen individuell betreut.

Dr. Hilma Albrecht geht regelmäßig in die Klasse von Doris Wicht – „eine fantastisch gute Lehrerin“, wie sie ausdrücklich betont: „Ich habe sehr viel gelernt von ihr.“ Zum Beispiel, dass die Kinder trotz ihrer Beeinträchtigung individuell sehr verschieden sind: „Wie sonst auch im Leben gibt es schwierigere und einfachere Charaktere.“ Das müsse man bei der Arbeit unbedingt berücksichtigen. Und natürlich sind die Fähigkeiten sehr unterschiedlich ausgeprägt: „Ich habe Kinder, die können ganze Sätze lesen. Es gibt aber auch Kinder, die haben ganz allgemein Schwierigkeiten mit den Buchstaben. Und ich habe Kinder, die sind froh, wenn sie ein Wort lesen können. Das ist Stand der Dinge“, stellt sie ganz sachlich fest. Die Konsequenz: Jedes Kind braucht Lösungen, die wirklich auf seine Bedürfnisse zugeschnitten sind. Und da „ihre“ Kinder 13 bis 15 Jahre alt sind, könne man nicht einfach nur mit einer Fibel für Erstklässler daherkommen. Für sie ist es deshalb wichtig, individuell passenden Lesestoff zu finden.

Und dann erzählt sie von einem Jungen, der sie beeindruckt hat: „Dieser Junge hat sich ein Buch ausgesucht in der Bibliothek, ein Buch über Fische. Und da haben wir dann gemeinsam ganz viel daraus gelesen – sogar ganze Absätze.“ Zu Hause hätte der Junge sehr wenig gelesen. Für sie eine unglaubliche und motivierende Erfolgsgeschichte. Und überhaupt: die Motivation. Es seien die kleinen Fortschritte, sagt sie, und auch diese Vorfreude, die sie bei den Jugendlichen manchmal bemerke, wenn sie in der Schule vorbeikommt.

Dr. Hilma Albrecht findet, dass man sich auch im Alter unbedingt neuen Herausforderungen stellen sollte. Deshalb ist sie vor ein paar Jahren mit ihrem Mann ins Augustinum München-Nord gezogen. „Hier werde ich intellektuell gefordert“, erzählt sie: „Ich kann tolle Vorträge besuchen und mache beim Chor mit. So was brauche ich. Das ist mehr wert, als nur zu Hause rumzuhocken.“ Eine Haltung, von der auch ihre Lesepatinnen und -paten profitieren.

 

Anstoßende Sektgläser; Senior*innen unscharf im Hintergrund
Augustinum Seniorenresidenz München-Neufriedenheim: Partyzeit in der 5. Etage des Neubaus

6. Die Stockwerkparty

Dies ist die Geschichte von vier Paaren, die der Zufall vor knapp zwei Jahren zusammengebracht hat. Sie beginnt damit, dass Dagmar und Wulf Scherschmidt im Juli 2023 in den Neubau der Augustinum Seniorenresidenz München-Neufriedenheim eingezogen sind – damals noch eine Baustelle. „Am Morgen nach dem Umzug standen plötzlich Handwerker im Appartement“, erinnert sich Dagmar Scherschmidt. „Sie waren über den Balkon hereingekommen und hatten gar nicht mitbekommen, dass wir schon eingezogen waren.“ Bald schon folgen weitere Nachbarn. Ute und Wolfgang Sauerborn kommen im August, Gitta und Volker Sigmund ebenso. Im September ziehen dann Malve und Walter Guder ein.

Und wie das so ist, wenn man direkt nebeneinander wohnt, klingelt man mal beim Nachbarn, weil das Mehl alle ist. Man trifft sich zufällig vor dem Aufzug und stellt fest, dass die Kinder vor Jahrzehnten auf die gleiche Schule gegangen sind, die aktuelle Nachbarschaft also schon eine Vorgeschichte hat. Oder man erkennt durch den offenen Türspalt, dass im Appartement von Dagmar Scherschmidt ein Spinett steht. Schon gibt es ein Gesprächsthema. Gemeinsame Interessen tauchen auf. Musik zum Beispiel. Zusammen gehen sie in klassische Konzerte und genießen es, wenn Amici di Flauti, das ambitionierte Flötenensemble von Dagmar Scherschmidt, im benachbarten Appartement probt.

Irgendwann einmal erzählt Wulf Scherschmidt von den Stockwerkfesten Mitte der 1960er-Jahre in seinem Studentenwohnheim in der Münchner Türkenstraße: „Immer am Anfang des Semesters kam die Flurbeleuchtung raus, jeder holte einen Tisch aus seinem Zimmer, einen Stuhl, und dann wurde im dunklen Gang eine lange Reihe gebildet – Kerzen an. Aus der Küche kam ein riesiger Topf Spaghetti. Dazu gab es algerischen Rotwein. Das war der günstigste, eine Mark und neunundneunzig Pfennige die Flasche.“ Weil sie als Studenten damals immer hungrig waren und Unmengen essen konnten, wurde das Ereignis gern auch als „Stockwerk-Fress“ bezeichnet, erinnert sich Scherschmidt.

Inspiriert von den Geschichten der Vergangenheit und begünstigt durch die räumlichen Gegebenheiten des Flures, veranstalten die vier Paare Ende 2023 die erste augustinische Stockwerksparty in ihrer fünften Etage. Noch mit Hindernissen. Der Flur lässt sich kaum abdunkeln, und ständig reagiert der Bewegungsmelder. Mittlerweile sind diese Startprobleme gelöst. Die studentisch inspirierte Etagenparty hat bereits mehrfach stattgefunden und ist auf dem Weg, zu einer festen Tradition zu werden. Und immer mittendrin ist Piko, einst ein kroatischer Straßenhund, der vor einigen Jahren zum Therapiehund ausgebildet wurde. Ganz still und leise hofft er darauf, dass von den herumstehenden Snacks ein Stück auf den Boden fällt.