KOLUMNE
von Christian Topp
Schaut man sich heute in den Vorgärten und Kleingartenanlagen der Republik um, dann fällt auf, dass die Gartenzwerge als Vertreter der deutschen Leitkultur schon einmal eine bedeutendere Rolle gespielt haben. In der Erinnerung an Jugendzeiten bevölkern die putzigen Figuren gefühlt das halbe Land – mal faulenzend, mal neckisch, mal arbeitsam. Warum aber haben sie sich seitdem aus der deutschen Öffentlichkeit fast flächendeckend zurückgezogen? Hängt das womöglich mit einem Rechtsstreit zusammen, dessen Ausgang in der großen, weitverzweigten Zwergen-Community als Beleidigung empfunden wurde? Gartenzwerge sollen ja angeblich sehr, sehr … sehr lange schmollen können.
Wir schreiben das Jahr 1994. Damals wurde ein Nachbarschaftsstreit vor dem Amtsgericht Grünstadt in Rheinland-Pfalz verhandelt, der die Zwergenwelt verändern sollte. Weil ein Mann sich vom „Lärm“ aus dem Nachbarhaus belästigt fühlte, stellte er drei „Frustzwerge“ auf: Einer zeigte den Stinkefinger, ein anderer den Vogel und ein dritter entblößte seinen Hintern in Richtung des angeblichen Ruhestörers. Das Gericht wertete diese Posen als grobe Beleidigungen. Der Nachbar wurde verpflichtet, die Zwerge zu entfernen und auch Zwerge ähnlicher Art nie wieder aufzustellen. Da diese Rechtsprechung bis heute Bestand hat, kann man nur vermuten, dass ein Großteil der engagierten Zwerge sich seit diesem Urteil ins Privatleben zurückgezogen hat und deshalb kaum mehr in deutschen Gärten anzutreffen ist.
Manch andere Nachbarschaft beginnt mit einem offensichtlich unlösbaren Konflikt: In Sachsen-Anhalt beispielsweise klagte ein Mann gegen den benachbarten Fußballplatz. Immer wieder musste er Bälle von seinem Grundstück holen, weil die Treffsicherheit der Kicker nicht dem vier Meter hohen Schutzzaun entsprach. Sehr wahrscheinlich hatte dieser Mann nie den Kindheitstraum, einmal als Balljunge bei einem bedeutenden Spiel aufzulaufen. Das akzeptierte das Gericht und verurteilte den Verein dazu, den Zaun hinter dem Tor auf sechs Meter zu erhöhen sowie durchschnittlich pro Woche maximal einen Fehlschuss zuzulassen. Ob sich der Verein nach dem Urteil auf dem Transfermarkt treffsicherere Torschützen besorgt hat, ist leider nicht bekannt.
Ein anderer Nachbarschaftsfall, von dem der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft berichtet, erinnert ein wenig an ein Märchen der Gebrüder Grimm. Er soll an dieser Stelle deshalb unter dem Aktenzeichen „Hänsel und Gretel“ abgeheftet werden. Es geht dabei um zwei Katzen, die vom Nachbarn immer wieder in die eigene Wohnung gelotst wurden, um sie dort übermäßig zu füttern. Glaubt man dem tierärztlichen Befund, dann wurden sie vom Nachbarn regelrecht gemästet. Trotz Unterlassungsbescheids und Androhung einer Ordnungshaft fütterte der Mann weiter. Klingelten Polizeibeamte, um ihn in flagranti zu erwischen, ließ er die Tiere durch die Hintertür aus der Wohnung, bevor er öffnete.
Die Katzenbesitzer wussten sich nicht anders zu helfen, als die Situation mit Handyvideos zu dokumentieren und Artikel zum Fall aus der Lokalpresse zu kopieren und zu verteilen. Daraufhin wurden sie vom Fütterer auf Verleumdung verklagt. Im Fall „Hänsel und Gretel“ siegte am Ende die Vernunft. Beide Parteien schlossen einen Vergleich: Der eine durfte nicht mehr füttern, und die anderen durften keine Videos mehr machen.
Zugegeben, diese drei Fälle sind eher skurril, sie zeigen aber auch, wie dünn der Lack der Nachbarschaftskultur oft ist. Nicht ohne Grund thematisieren die Aphorismen aus aller Welt, die wir für die aktuelle forum-Ausgabe gesammelt haben (Nachbarschaft 2), fast durchgängig diese Fragilität. Umso erstaunlicher ist, dass die meisten Menschen anscheinend ganz gut mit ihren Nachbarn zurechtkommen. Stoßen wir also heute noch einmal an: Auf eine gute Nachbarschaft! Wer weiß, ob wir uns nicht morgen schon vor Gericht wiedersehen.