idyllische dörfliche Landschaft eingebettet in sanfte Hänge
Illustration: shutterstock – OleksiiShcherba

Die geschrumpfte Welt

Wir alle haben Erinnerungen an unsere Kindertage. Aber wie zuverlässig sind sie? Und wie verändert sich unsere Wahrnehmung, wenn wir größer und älter werden? Gedanken über köstliches Brot, Kirchenbänke und einen Kosmos, der zur Puppenstube geworden ist.

von Mirjam Meßmer

Ich bin in einem Haus mit großem Garten in einem kleinen Dorf in Bayern aufgewachsen, einem 2.000-Seelenort – als Kind war er für mich die ganze Welt! Was konnte es noch mehr geben? Es gab alle Läden, die man sich nur vorstellen konnte, vom Bäcker und Metzger über den Tante-Emma-Laden und einen Schreibwaren-Geschenke-Spielwarenladen bis hin zu einer Gärtnerei, zwei Banken (ohne Geldautomaten) und eine Wiese zum Spielen. Und für diejenigen, die partout weg mussten, eine Tankstelle und einen Bahnhof. Kirche, Kindergarten und Schule befanden sich in der Dorfmitte, so dass die Wege, die regelmäßig zu Fuß zurückgelegt wurden, zwar einige Zeit beanspruchten, aber bewältigbar blieben. Dieser Kosmos war für mich riesig. Ein Spaziergang zum anderen Ende des Ortes schien endlos – wie konnte man nur freiwillig dort wohnen?

Das höchste Gebäude mit dem größten Raum war die Kirche, die sehr regelmäßig besucht wurde – ich stand, saß und kniete stets in der dritten Reihe links außen. Der elterliche Garten bot so ziemlich alles an Obst und Gemüse, was man sich nur vorstellen konnte (nur der Kirschbaum trug keine Kirschen). Ich musste nur hinausgehen, die reifen Früchte pflücken und ... lecker! Wirklich störend waren allerdings die Düsenjäger, die den gesamten Sommer tosend über meinem Kopf hinwegdonnerten und mit einem lauten Knall die Schallmauer durchbrachen. Sie machten mir Angst.

Die Züge fuhren noch regelmäßig

Spannend wurde es, wenn meine Mutter sagte „Wir müssen in die Stadt“, und wenn mein Vater sagte „Wir machen einen Ausflug“. In die Stadt fahren bedeutete, sich „stadtfein“ zu machen. Sprich: etwas Schönes anzuziehen. Die 20 Kilometer wurden mit dem Zug zurückgelegt. In meiner Kindheit fuhren die Züge auf dem Land regelmäßig und pünktlich. Aber 20 Kilometer? Das dauerte ewig. „In die Stadt gehen“ war eine Tagesaufgabe, von der wir müde vom vielen Laufen, den Menschenmassen und den unzähligen Eindrücken, voll bepackt mit Taschen und Tüten nach Hause zurückkehrten.

Sehr viel bequemer war ein Ausflug am Wochenende und versprach überdies mehr Abenteuer. Wir fuhren mit dem Auto an einen fremden Ort, um dort eine Kirche anzusehen, spazieren zu gehen und zum Abschluss noch eine Brotzeit in einer Wirtschaft zu genießen. Wir durchquerten fremde Gegenden und kreuzten mehrmals Bahngleise und passierten Brücken. Es ging hinaus in die weite Welt.

Ein Ausflug blieb mir ganz besonders lange in Erinnerung, denn in der Gaststätte gab es das beste Brot, das ich je gegessen hatte. Eigentlich mochte ich kein Brot, es machte mich immer ein wenig traurig, Brötchen waren viel besser. Aber dieses war saftig, weich und schmackhaft. Ich fragte meine Mutter mehrmals, ob wir es nicht kaufen könnten – aber unser Bäcker hatte nur ein ähnliches im Angebot, das keineswegs an diese Leckerei herankam und mich recht enttäuschte.

Porträt von Mirjam Meßmer, Kulturbeauftragte des Augustinum

Mirjam Meßmer ist Kulturbeauftragte des Augustinum.

Mit den Jahren wurden das Dorf und auch die Stadt zu klein und zu eng für mich. Mit Anfang 20 verließ ich die Gegend für das Studium, ich kehrte – außer für Besuche bei meinen Eltern und meinem Bruder – nicht wieder dorthin zurück. Mein Bruder ist in unserem Heimatdorf geblieben. Als gute Tante bin ich Firmpatin bei meinem Neffen, die Firmung fand in der Kirche meiner Kindheit statt – unser Platz war in der vierten Reihe vorne rechts. Ich konnte meine Irritation nur schwer für mich behalten: Die Kirchenbänke mussten geschrumpft sein! Ich hatte Mühe, meine Beine unter der Kirchenbank zu platzieren, meine Knie stießen beinahe an der Rückenlehne der vorderen Bank an. Ich kam mir vor wie Gulliver in Liliput. Seltsamerweise schien das nur mir aufzufallen. Auch der Fußweg von der Kirche zu meinem Elternhaus musste geschrumpft sein – er dauerte ganze fünf Minuten. Der Garten meiner Eltern ist nach wie vor sehr groß. Allerdings sehe ich in ihm nicht mehr die riesige Spielfläche, sondern unendlich viel Arbeit. Als ich eines Tages auf dem Rasen stand und in den blauen Himmel blickte, wurde mir plötzlich eines bewusst: Seit Jahren flogen keine Düsenjäger mehr. Wie lange das wohl noch so bleiben wird?

Eines Tages fragte ich meine Mutter, wo es das unglaublich leckere Brot gegeben hatte, das mich so lange begeisterte. Sie lachte – ihre Antwort war ernüchternd: Der unbekannte Ort war ganze fünf Kilometer entfernt. Bei unseren sonntäglichen Ausflügen erkundeten wir wohl nur einen sehr kleinen Teil der Welt – der einst riesige Kosmos verwandelte sich mehr und mehr in eine Puppenstube.

Ist die Welt kleiner geworden, seit ich größer geworden bin?

Im ersten Moment eine ernüchternde Erkenntnis. Auf den zweiten Blick zeigt sich die Groteske, denn die Kirchenbänke sind seit meinem 20. Lebensjahr ganz sicher nicht geschrumpft. Bei erneuter Betrachtung der Kindheitserinnerungen stellt sich ein Gefühl von Beruhigung und auch Wehmut ein. Wie schön aufregend war die Zeit, als alles Neue der Entdeckung der Welt glich, die einen schier unerschöpflichen Reichtum an unterschiedlichen Wegen, Orten, Gebäuden, Kunstwerken, Menschen und deren Werken barg. Und als die Natur immer wieder neue Wunder bereithielt, die es zu entdecken galt. Ist die Welt kleiner geworden, seit ich größer geworden bin? Nein. Ich muss nur wieder lernen, die Augen staunend offen zu halten, um die noch unentdeckten kleinen und großen Schätze wahrzunehmen. Und davon gibt es reichlich!