Wunder des Anfangs

Die Vorfreude auf Weihnachten und das Christkind, die sie als Kind empfunden hat, begleitet unsere Autorin bis heute. Die Erinnerung daran und an andere glückliche Momente ihrer Kindheit sind ihr wie ein Schatzkästlein, aus dem sie Kraft für das Heute schöpfen kann. Denn der Zauber des Anfangs, wie er in der Weihnachtsgeschichte erzählt wird, kann auch im eigenen und im Leben jedes Menschen spürbar sein – mit der ganzen Zuversicht und all den Möglichkeiten, die jedem Beginnen eigen sind.

von Irene Silbermann

Wenn ich an meine Kindheit denke, dann meine ich, dass es da in jedem Jahr eine Zeit gegeben hat, die völlig herausgelöst war aus dem eher grauen Alltag von Schule, täglichen Pflichten und kleinen Streitereien in unserer großen Familie. Das war die Weihnachtszeit mit ihren Vorboten im Advent. Die Vorfreude auf das Christkind beflügelte mein Herz. Ich machte mir gar keine Gedanken wegen der Ärmlichkeit und Not der Heiligen Familie. Es waren ja die Engel da, die alles hell und warm machten. Und wenn der ganze Himmel jubiliert, die Hirten staunend anbeten und selbst aus fernen Ländern die Könige kommen, da konnte die irdische Armut ja nur himmlisch überstahlt gewesen sein.

Porträtfoto von Irene Silbermann

Irene Silbermann ist Seelsorge- und Palliative-Care-Beauftragte im Augustinum sowie theologische Beraterin der Geschäftsführung.

Ich liebte auch die Lieder, die so innig das Kind besingen und konnte meine ganze kindliche Liebe und Sehnsucht ins Singen und Summen legen. Etwas von diesem Glanz hat mich mein ganzes Leben begleitet, und ich spüre es in jeder Advents- und Weihnachtszeit neu. Das Wunder des Anfangs. Das Wunder der Geburt eines neuen Lebens mit all den Möglichkeiten, die auf das kleine Menschlein warten. Und die größte davon: Die Welt könnte grade durch dieses Menschenkind ein wenig heller, wärmer und friedlicher werden …

Vielleicht hat dieser Zauber des Anfangs auch damit zu tun, dass meine Mutter uns Kindern zu jedem unserer Geburtstage neu erzählt hat, wie es war, als wir geboren wurden. Wie sie und unser Vater sich über jede Schwangerschaft gefreut haben und jedes Mal hofften, dass sie einen guten Ausgang nimmt. Immerhin hatte meine Mutter neben uns sechs Geschwistern auch noch vier Fehlgeburten. Aber die Gefährdung schien für sie das Glück, wenn sie ein Kind zur Welt bringen konnte, nur noch zu vertiefen und zu erhöhen.

Ich weiß, dass meine Erinnerungen mich zumindest zum Teil narren (und meine Mutter wusste das in ihrem Erzählen vermutlich auch). Bei näherem Hinschauen erinnere ich mich, dass es natürlich auch in der Heiligen Zeit Zank und Streit bei uns gab. Einmal hörte ich sogar, wie mein Vater meiner Mutter zuraunte: „Nicht einmal an Weihnachten können sie Frieden halten!“ Und ich vermute, auch meine Mutter war nicht immer nur glücklich mit ihren Schwangerschaften, zumal die Geburten jedes Mal bitter schwer für sie waren. Und die wirtschaftliche Situation unserer Familie war alles andere als rosig.

Jesus in der Krippe, farbiger Siebdruck

Und doch – die Erinnerung an die vermeintlich heilen Momente in meinem Leben sind mir unendlich wichtig. Und es wäre mein größter Wunsch, dass jeder Mensch solche Momente in sich tragen kann, sei es aus der Kindheit oder einer anderen Lebensphase. Sie tragen einen durchs Leben und grad durch die Zeiten, die alles andere als heil sind. Sie sind wie ein Schatzkästlein, ein tiefes Wissen, manchmal auch eine Sehnsucht: „Das hat es in meinem Leben auch gegeben.“ Damit begrenzen sie das vielleicht grad empfundene Elend und eröffnen eine tiefere Dimension des Lebens. Manchmal helfen sie auch, einzutauchen in diese andere Welt und dabei Kraft zu schöpfen für das Heute.

Ich glaube, so ist es auch denen gegangen, die unsere biblischen Geschichten aufgeschrieben haben. Und das beginnt schon im ersten Testament.

Das Gute muss ja noch da sein

Während das Volk Israel im babylonischen Exil lebte, schrieben kluge Menschen auf, was ihnen vom Beginn der Schöpfung überliefert worden war. Ganz an den Anfang der Geschichte gingen sie, dahin, wo noch alle Möglichkeiten offen waren, ganz in den Zauber des Anfangs hinein. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“, so beginnen sie. Und am Ende jedes Schöpfungstags hören sie Gott sagen: „Es war sehr gut!“ Wenn ganz am Anfang alles gut war, dann muss das Gute ja noch da sein, auch wenn es momentan nicht spürbar ist. So mag die Botschaft gewesen sein.

Freilich, die Verwicklungen beginnen schnell, wie im richtigen Leben auch. Und doch beschreibt die Bibel, wie sich durch die Verwicklungen hindurch immer wieder neue Anfänge mit immer neuen Möglichkeiten ergeben.

Jesus in der Krippe, farbiger Siebdruck

Das fasziniert mich an den biblischen Geschichten. Sie beschönigen nichts und haben trotzdem immer noch diese andere Dimension, die mitschwingt. Gottes „Ja“ zu seiner Schöpfung. Gleichzeitig idealisieren die biblischen Autoren auch bestimmte Zeiten und Menschen, auf die sie sich gern berufen und die für sie den Zauber des Anfangs symbolisieren.

Die Sehnsucht nach Kindern

Abraham zum Beispiel, der im Alter nochmal aufbricht, weil Gott ihm verspricht, seinen tiefsten Wunsch zu erfüllen, doch noch ein Kind zu bekommen mit seiner Frau Sarah. Da haben wir auch wieder dieses Motiv: die Sehnsucht nach einem, am besten mehreren, am allerbesten ganz vielen Kindern. Dass das Leben weitergeht, dass die Familie groß werde, vielleicht auch, dass die Welt durchs eigene Fleisch und Blut ein bisschen besser werde.

Die Kindheit dieser Kinder mag dann gar nicht so zauberhaft gewesen sein (jedenfalls interpretiere ich das, was mit Isaak, Abrahams Sohn, bei seiner Beinahe-Opferung geschehen ist, in diese Richtung – nachzulesen im 1. Buch Mose im 22. Kapitel). Aber im Nachhinein und für die Nachgeborenen, die in ihren ganz eigenen Mühen steckten, wurde auch darin die Kraft des Anfangs sichtbar und spürbar.

Ähnlich ist es mit den Geschichten um König David. Zum ersten Mal war es Israel gelungen, ein einheitliches Reich zu bilden. Spätere Generationen, längst verstreut auf der ganzen Welt, erinnerten sich Jahrhunderte lang und bis heute an diese vermeintlich goldene Zeit, als das Volk Israel vereint war und hoffte, dies sei der Beginn einer neuen Entwicklung. Manchmal ist die Versuchung groß, vor lauter Sehnsucht dahin zurückzuwollen, wo man noch nie war …

Jesus in der Krippe, farbiger Siebdruck

Aber aller Idealisierung zum Trotz: Ich glaube, es ist lebensnotwendig, gute Erinnerungen in sich zu tragen. Sie sind unentbehrlich für ein Vertrauen ins Leben, das einem hilft, gegenwärtige Krisen zu überstehen.

In meiner Zeit als Seelsorgerin im Augustinum München-Neufriedenheim war es mir eine große Freude, mit Bewohner*innen, grad wenn sie in einer schwierigen Situation waren, Spaziergänge in die Vergangenheit zu unternehmen. Wir kamen dabei an Orte und in Zeiten voller Lebendigkeit. Oft war es die Kindheit, wo es meistens eine liebevolle Bezugsperson gab. Oft die Mutter, manchmal auch die Oma oder eine Tante. Selten auch der Vater, denn der war bei den Bewohner*innen oft kriegs- oder berufsbedingt emotional eher nicht so leicht erreichbar.

Immer wieder war ich sehr berührt und bewegt, wie viel Kraft und auch Zuversicht mein Gegenüber aus diesen Erinnerungen gewinnen konnte. Wie die Vergangenheit bis in die Gegenwart reichte und zumindest für den Moment die erlebte Trostlosigkeit mit neuem Mut erfüllen konnte. Ich bin unendlich dankbar für diese Begegnungen, denn sie haben mich gelehrt, auch meine eigenen Erinnerungen als kostbar wahrzunehmen.

Jesus in der Krippe, farbiger Siebdruck

Und ich denke in diesem Zusammenhang auch an Menschen, die ich begleitet habe, die auf keine einzige liebevolle Erinnerung zurückgreifen konnten. Die Bürde dieses Lebens ist für mich, auch im Nachhinein, nicht einmal zu ahnen. Gleichzeitig hoffe ich, dass es doch auch in diesen Biografien Momente gibt, die vielleicht in einem Gespräch nicht zur Sprache kommen, weil das Leid so groß ist, aber die doch irgendwo versteckt vorhanden sind. Momente, wo etwas durchscheint von Angenommensein, vielleicht sogar von Geborgenheit. Kann ein Mensch überhaupt überleben ohne die Erfahrung, im Leben willkommen zu sein? Da denke ich auch an Jesus, dessen Geburt wir bald wieder feiern.

Man könnte seine Biografie so beschreiben: unbekannter Vater, heimatlos in einer unwürdigen Situation geboren, kurz drauf auf der Flucht nach Ägypten vor den Häschern des Königs Herodes, dann zurück nach Nazareth, irgendwann ausgebrochen aus dem bürgerlichen Milieu, radikalisiert als Heilsprediger und Wundertäter und folgerichtig an der Staatsgewalt gescheitert und mit der Todesstrafe hingerichtet.

Liebevoll empfangen, trotz anfänglicher Zweifel

Aber es geht auch anders: Liebevoll empfangen, trotz anfänglicher Zweifel. Angenommen von seinem Ziehvater, der in ihn das Vertrauen zu seinem himmlischen Vater gelegt hat. Mit Mühe losgelassen von seiner Familie, aber eine neue, eine Freundschafts-Familie stiftend, die nicht danach fragt, wo einer herkommt oder was er/sie auf dem Kerbholz hat. Dafür bereit sein zu sterben und zu erfahren, dass diese Art zu leben stärker ist als der Tod.

Und ich glaube fest, dass die Kindheit mit Maria, Joseph und all den Geschwistern, Jesus zu dem gemacht hat, was er wurde. Mit seinem Vertrauen auf Gott und seiner vorurteilsfreien Liebe. Ob er eine zauberhafte Kindheit hatte, weiß ich nicht. Aber dass er mir gute Lebenserinnerungen geschenkt hat und die Kraft, mit den weniger guten umzugehen, das weiß ich gewiss. Und bin sehr dankbar dafür.