Vom Glück der frühen Jahre

Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

Rainer Maria Rilke, 1898

 

geschlossene Tür eines alten Ofens, durch die das Feuer hindurchschimmert
Foto: iStock – Rytis Bernotas

Wintermorgen

Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eignen Leben die Erfüllung wieder. Ich weiß den, der mir in Erfüllung ging, und will nicht sagen, dass er klüger gewesen ist als der der Märchenkinder. Er bildete sich in mir mit der Lampe, wenn sie am frühen Wintermorgen um halb sieben sich meinem Bette näherte und den Schatten des Kindermädchens an die Decke warf. Im Ofen wurde Feuer angezündet. Bald sah die Flamme, wie in ein viel zu kleines Schubfach eingepfercht, wo sie vor Kohlen kaum sich rühren konnte, zu mir hin. Und doch war es ein so Gewaltiges, das dort in nächster Nähe, kleiner als ich selbst, sich einzurichten anfing, und zu dem die Magd sich tiefer bücken musste als zu mir. Wenn es versorgt war, tat sie einen Apfel zum Braten in die Ofenröhre. Bald zeichnete sich das Gatter der Kamintür im roten Flackern auf der Diele ab. Und meiner Müdigkeit kam vor, sie habe an diesem Bilde für den Tag genug. So war es um diese Stunde immer; nur die Stimme des Kindermädchens störte den Vollzug, mit dem der Wintermorgen mich den Dingen in meinem Zimmer anzutrauen pflegte. Noch war die Jalousie nicht hochgezogen, da schob ich schon zum erstenmal den Riegel der Ofentür beiseite, um dem Apfel in seiner Röhre nachzuspüren. Manchmal hatte er sein Arom noch kaum verändert. Und dann geduldete ich mich, bis ich den schaumigen Duft zu wittern glaubte, der aus einer tieferen und verschwiegeneren Zelle des Wintertages kam als selbst der Duft des Baums am Weihnachtsabend. Da lag die dunkle, warme Frucht, der Apfel, der sich, vertraut und doch verändert wie ein guter Bekannter, der verreist war, bei mir einfand. Es war die Reise durch das dunkle Land der Ofenhitze, der er die Arome von allen Dingen abgewonnen hatte, welche der Tag mir in Bereitschaft hielt. Und darum war es auch nicht sonderbar, dass immer, wenn ich an seinen blanken Wangen meine Hände wärmte, ein Zögern mich beschlich, ihn anzubeißen. Ich spürte, dass die flüchtige Kunde, die er in seinem Dufte brachte, allzu leicht mir auf dem Wege über meine Zunge entkommen könne. Jene Kunde, die mich manchmal so beherzte, dass sie mich noch auf dem Marsch zur Schule tröstete. Dort angelangt, kam freilich bei Berührung mit meiner Bank die ganze Müdigkeit, die erst verflogen schien, verzehnfacht wieder. Und mit ihr jener Wunsch: ausschlafen zu können. Ich habe ihn wohl tausendmal getan und später ging er wirklich in Erfüllung. Doch lange dauerte es, bis ich sie darin erkannte, dass noch jedesmal die Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte, umsonst gewesen war.

Walter Benjamin, „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, Frankfurt 1950 (posthum) nach Entwürfen aus den 1930er Jahren

 

 

Gemälde Madonna mit Kind von Giovanni Battista Salvi da Sassoferrato, 1674
Foto: Livio Andronico, cc 4.0
Madonna mit Kind und Engeln von Giovanni Battista Salvi da Sassoferrate, 1674

Kommt ein Kindlein auf die Welt

Kommt ein Kindlein auf die Welt,
Fällt ein Stern vom Himmelszelt,
Springth ein Busch in Blüten auf,
Fliegt ein Vogel hoch hinauf,
Singt so weh, singt so süß,
Von dem hellen Paradies.

Lacht das Kind zum ersten Mal,
Rauscht ein Brunnen aus dem Tal,
Eilt ein Kitzlein durch den Tann,
Eine Wachtel hügelan,
Ruft gar hell ihrer Brut:
Gottes Herz ist groß und gut.

Weint zum erstenmal das Kind,
Kommt ein sanfter Abendwind,
Und ein Lilienstengel schön
Wird aus dunkler Erde gehn
Und ein Tau fällt darein.
Trösten kann nur Gott allein.

Ruth Schaumann, 1940

(trotz unserer Bemühungen waren die Rechteinhaber nicht zu ermitteln; ggf. unberücksichtigte Rechteinhaber bitten wir, sich mit uns in Verbindung zu setzen)