KOLUMNE
von Christian Topp
Als sich Mitte der 1980er Jahre die deutsche Band Alphaville ewige Jugend wünschte, war ich gerade damit beschäftigt, die eigene Jugend zu bewältigen. Mit ihrem Song „Forever Young“ konnte ich deshalb wenig anfangen. Ich war ja selber jung – also irgendwie unsterblich. Unvorstellbar, dass dieser Zustand jemals zu Ende gehen würde.
Einer der größten Vorzüge der Kindheit ist die eigene Ahnungslosigkeit. Alles Wesentliche liegt in jungen Jahren an der Oberfläche, nichts ist mehr als es scheint. Zumindest scheint es einem so. Verbieten einem die Eltern zum Beispiel, nach dem Zähneputzen nochmal zur Schokolade zu greifen, dann ist das fürs kindliche Gemüt eine vollkommen sinnlose Sanktion. Das Argument, die Zähne würden es später einmal danken, liegt in jenen Jahren weit außerhalb des eigenen Horizonts. So weit, dass es nicht einmal als Argument, sondern höchstens als maximaler Affront wahrgenommen werden kann.
Angeblich verlängert sich die Adoleszensphase durchschnittlicher Jugendlicher seit Jahrzehnten immer mehr. Wo früher zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr der sogenannte „Ernst des Lebens“ an die Tür klopfte und unerbittlich klarstellte, dass man nach dem Zähneputzen auf keinen Fall noch einmal Schokolade essen sollte, leistet sich heute, wer es sich leisten kann, erst einmal einen Aufschub. Das Leben der Erwachsenen erscheint aus jugendlicher Perspektive maximal unattraktiv: Verpflichtungen, Verpflichtungen, Verpflichtungen … Wo bleibt denn da der Spaß? Erwerbsarbeit wird als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens kaum noch akzeptiert.
Mittlerweile kann man vor allem bei Männern beobachten, wie ihre Pubertät mitten in den Vierzigern direkt in eine Midlifecrisis umschlägt. Gestern waren sie noch mit äußerst lustigen Mutproben beschäftigt: Komasaufen zum Beispiel, illegale Autorennen im Stadtverkehr, exzessive Nutzung von Dating-Apps. Heute dann: ausgedehnte Gravelbike-Fahrten durch beruhigende Naturlandschaften, Achtsamkeits-Seminare, die dem Kind im Mann wieder mehr Raum verschaffen sollen oder exklusive Weiterbildungen am Hochleistungsgrill, weil ein Leben ohne Fleisch Käse ist.
„Mehr Kindheit wagen“, scheint die Devise der Stunde zu sein – frei nach Willi Brandts programmatischer Demokratie-Forderung in seiner Regierungserklärung von 1969. Was aber ist der Kern der Kindheit? Warum erinnere auch ich mich gern an die eigene Kindheit zurück?
Jede glückliche Kindheit ist geprägt von einem Höchstmaß an Verantwortungslosigkeit. Die Rahmenbedingungen sind definiert: Man muss keine Miete zahlen, keine Steuererklärung machen und sich in der Regel auch nicht mit Problemen rumschlagen, die auf den ersten Blick unlösbar scheinen. Es sei denn die Eltern verlangen, dass man regelmäßig den Müll wegbringt, sein Zimmer auf- und die Spülmaschine einräumt.
Mit dieser Perspektive im Rucksack meines Lebens, verstehe ich die Sehnsucht nach ewiger Jugend heute deutlich besser als vor 40 Jahren. Wenn ich mich nicht für meine Steuererklärung interessiere, dann hat das mittlerweile vor allem Konsequenzen für mich. Will ich vernünftig wohnen, muss ich mich darum kümmern, mir das auch leisten zu können. All die großen und kleinen Probleme des Alltags muss ich selber lösen. Unter diesen Umständen wirkt das Versprechen dann doch attraktiv: „Forever young“ und verantwortungslos – zumindest bis ans Lebensende.