ReifeZeiten

Augustinum Gruppe

2020 geht es im Augustinum um alles, was reift, schreibt Dr. Paula Väth, Kulturbeauftragte des Augustinum über das Jahresmotto der Kultur.

Im Sommer 2001 war der damals 58-jährige Mick Jagger kein bisschen amüsiert, als er sein Konterfei auf der größten britischen Seniorenzeitung entdeckte. Zugegeben, der Herausgeber hatte den berühmten Rolling Stone damals nicht um Erlaubnis gefragt, argumentierte aber in seiner Verteidigung, dass Herr Jagger sich nicht diskriminiert fühlen dürfe, wenn seine Fans mittlerweile in die Jahre gekommen seien. Als der „Focus” im September Mick Jagger auf seinem Titel abbildete, ging juristisch garantiert alles mit rechten Dingen zu. Das Magazin hatte den Artikel „Vom Ende des Alterns” mit Jagger-Porträts aus 50 Jahren bebildert, weil „kaum einer es derart geplant versteht, dem Alter die Zunge rauszustrecken”. 

Nach Auskunft der Gesellschaft für deutsche Sprache geht der Begriff „Reife” auf das westgermanische „reipja” zurück und meint ursprünglich alles, was geerntet werden kann. Im übertragenen Sinn beschreibt das Reifen einen Vorgang des Besserwerdens und der Vervollkommnung, der später auch für die körperliche und geistige Reife von uns Menschen angewandt wurde.

Alles, was reift 

2020 geht es im Augustinum um alles, was reift: um die Früchte der Natur und ihre wunderbare Verarbeitung (zu Wein, hochprozentigen Spirituosen, luftgetrockneten oder eingelegten Köstlichkeiten etc.), dann um das Reifen von Gefühlen, Vorsätzen und Plänen, Begabungen und Talenten. Und schließlich geht es auch um das Alter(n), denn nichts anderes ist gemeint, wenn man das Reifen, Vervollkommnen und Besserwerden auf uns Menschen überträgt. 

Befragt man noch einmal die Etymologen, dann erfährt man, dass Alter, vom altnorddeutschen „aldr” abstammend, das Heranwachsen einer unmündigen Person meint. Wie lange die Phase der Unmündigkeit freilich dauerte, als die im Altnorddeutschen verfasste Edda entstand, wird nicht gesagt. Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung um Christi Geburt auf rund 22 Jahre geschätzt wird und die Menschen zu Zeiten Martin Luthers in Nordeuropa im Durchschnitt gerade einmal zehn Jahre älter geworden sein sollen, dann bekommt man allerdings eine Vorstellung von den Verhältnissen im hohen Mittelalter.

Tatsächlich dauert es, bis sich die Lebensbedingungen drastisch verändern: Erst in den letzten 100 Jahren hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland mehr als verdoppelt, und sie steigt kontinuierlich weiter, wenn auch nicht mehr so stark wie noch vor zehn Jahren. In der gesamten Menschheitsgeschichte hat es noch keine vergleichbare Zeit gegeben, in der das Thema Alter und Altern von größerer Bedeutung gewesen wäre als heute, wo das Alter mittlerweile eine eigene Lebensphase von gut 30 Jahren einnimmt, so viel wie die gesamte Lebenserwartung einmal ausmachte. 

Angesichts dieser Zahlen wird in allen natur- und geisteswissenschaftlichen Wissenschaftszweigen leidenschaftlich darüber geforscht und debattiert, was das Alter eigentlich ist, wann und wie es beginnt, was es für den Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet – und wie man ihm womöglich ein Schnippchen schlagen kann. Einfache Antworten sind nicht zu bekommen, und je mehr wir wissen, desto mehr scheinen sich die Erkenntnisse zu widersprechen. Ob das daran liegt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alter(n) so erstaunlich jung ist? 

Reif für die Insel 

ReifeZeiten haben wir das Motto des nächsten Jahres genannt, weil es so viele Varianten von Reife oder vom Reifen gibt und uns genau diese Möglichkeiten und Vielschichtigkeiten reizen: Das Kulturprogramm wird also wieder so abwechslungsreich und unterhaltsam werden wie die Jahre davor. Es werden Werke von frühreifen Künstlerinnen und Künstlern zu hören und zu sehen sein, Spätwerke untersucht und womöglich auch Unvollendetes vorgestellt. Sie erfahren von Entstehungsprozessen, die manchmal ein ganzes Leben dauerten. Das Bundesfamilienministerium stellt dem Augustinum die Karikaturen-Ausstellung „Schluss mit Lustig” zur Verfügung, in einer Kooperation planen wir die Ausstellung „Alt ist das neue Jung”, und inspiriert von der Metapher „Reif für die Insel” laden wir Sie zu Reisevorträgen ein. 

Ein Motto wie die ReifeZeiten ist ohne die Küche nicht denkbar. Und deshalb können Bewohnerinnen und Bewohner gespannt sein, welche Früchte (womöglich aus dem eigenen Garten) ein Fest bekommen. Einen Anlass feiern wir auf alle Fälle auch wieder gemeinsam: Nach dem Mondfest 2018, einem Europafest 2019 wird das 2020 Erntedank sein. Das ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was landauf, landab gerade für das nächste Jahr geplant wird. Wir freuen uns auf das, was das Kulturmotto in den Residenzen alles zum Reifen bringen wird.