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Während des Lockdowns ist es zu einer schönen Tradition geworden: Jeden Abend traten Menschen in ganz Deutschland auf ihre Balkone und an die geöffneten Fenster und stimmten das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ an. Aufgerufen dazu hatte die Evangelische Kirche in Deutschland – sie wollte mit dem bekannten Kirchenlied ein Zeichen der Zuversicht und Gemeinschaft setzen.
Im Augustinum Bonn ist Karl Tschurl diesem Aufruf auf ganz besondere Weise gefolgt: Der ehemalige Solo-Bratschist der Duisburger Philharmoniker hat regelmäßig abends um halb acht seine Geige genommen und mit seinem Spiel Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses gut in den Abend und in die Nacht geleitet.
Die berührende Kraft der Musik hat der gebürtige Ungar in seinem Leben immer wieder erfahren. Bereits als Kind, wenn er mit seinen Eltern zum Essen ausgegangen ist und das Salonorchester aufgespielt hat. Besonders die Streicher haben ihm gut gefallen, so dass er selber begonnen hat, Geige zu spielen. Dass er die Musik zu seinem Beruf machen würde, war damals allerdings noch nicht klar und später eher einer Notlage geschuldet. Denn im ungarischen System der 50er Jahre durfte er als Sohn wohlhabender Eltern nicht – wie geplant – Ingenieurwesen studieren, sondern musste in der Fabrik arbeiten. Geige hat er daneben weiterhin gespielt, alsbald auf Vermittlung seiner Lehrers Kinder auf dem Land unterrichtet – und bekam schließlich einen Studienplatz an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest.
Die folgenden Stationen brachten Tschurl – nach dem Ungarischen Volksaufstand 1956 – nach Wien, London, Freiburg und Duisburg, wo er in den verschiedenen Orchestern als Solo-Bratschist spielte und damit auch Stimmführer der Bratschengruppe im Orchester war. Besonders eindrücklich ist ihm die Zeit mit der Philharmonia Hungarica im Gedächtnis, einem Flüchtlingsorchester, das 1956 von aus Ungarn geflohenen Musikern in Baden bei Wien gegründet worden war: „Das Orchester hatte einen sehr guten Ruf, einer der ersten Solisten war Yehudi Menuhin, und Antal Doráti hatte die künstlerische Leitung. Ich erinnere mich besonders an ein sehr bewegendes Konzert in Wien im dortigen Musikvereinssaal. Unser Dirigent Raphael Kubelik sagte damals: Wir haben keine Heimat, wir haben Bartók und Dvorák, und das werden wir heute Abend zeigen.“
Das Spiel über viele Jahrzehnte forderte seinen physischen Tribut, dennoch ist Karl Tschurl der Musik treu geblieben. Seit er vor gut einem Jahr ins Augustinum Bonn gezogen ist, leitet er den dortigen Musikkreis aus Cello, Flöten, Bratsche und Geige, die er selbst spielt: zur Freude der Musikerinnen und Musiker und – mit Wandelkonzerten an mehreren Stationen im Park – auch aller anderen im Haus.