Menschen
Sie hatten sich in einen Bierkeller mit Ziegelgewölbe geflüchtet. Als die Bombe detonierte, zerriss alles, die Marmeladengläser zerplatzten, alles fiel herab und die Tür sowie die Lichtschächte wurden verschüttet; es gab kein Licht mehr. Sieben Jahre war Ella Oertle alt, als sie das gewaltige Bombardement überlebte und in einem Kellergewölbe verschüttet war. Ihre Mutter war damals allein mit den drei Kindern, während die älteste Tochter sich in Berchtesgaden aufhielt.
Jahrelang hat die heute 89-jährige Ella Oertle später unter Platzangst gelitten und keine dunklen Räume ertragen können. In der Folge wurde die Familie vom Roten Kreuz evakuiert und kam in einem Dorf im Mangfalltal unter, wo sie dann auch fest einquartiert wurden.
Fritz Gutsch hat dagegen vom Krieg erstmal gar nicht viel mitbekommen. 1942 ist er eingeschult worden, da war er sieben Jahre alt. Es ging alles gut, bis die Schule 1944 von Bomben getroffen und er mit seiner Mutter evakuiert wurde. Eineinhalb Jahre hat er in der Nähe von Mühldorf am Inn verbracht.
„Das hat mich als Kind schon mitgenommen“
„Das war eine schöne Zeit“, erinnert sich der 90-Jährige. Auch wenn alle auf dem Hof mitarbeiten mussten, die Mutter und er. „Vom Krieg haben wir dort nichts gespürt“, erzählt Fritz Gutsch. Nur einmal sei ein englischer Flieger abgeschossen worden. Der schwer verletzte Pilot sei dann in einen Bauernhof gebracht worden, wo er verstarb. „Das hat mich als Kind schon mitgenommen.“
Die Evakuierung war für viele eine prägende Zeit: „Ich habe viel gelernt“, erzählt Ella Oertle. Sie habe auf dem Feld gearbeitet und „alles angenommen, was auf mich zugekommen ist“. Ihr Lebensrezept lautet daher heute noch: „Ich nehme alles an und mache das Beste daraus.“
Das Kriegsende erreichte dann viele auf dem Lande: Bereits 1942 mit seiner Mutter evakuiert erlebte Werner Mücke den Einmarsch der Amerikaner in Lenggries. Für ihn als Kind ein Erlebnis, durfte er doch als Bub auf einem Panzer mitfahren. Zuvor fuhr allerdings allen ein Schreck durch die Glieder, weil die SS sich in der Jachenau verschanzt hatte und am Vorabend des US-Einzugs einen Bauernhof in Brand gesetzt hatte. „Ich erinnere mich an die brüllenden Tiere, die aus dem Stall liefen“, erzählt Werner Mücke.
Erinnern kann er sich auch an einen Kanadier, der die Familie Mücke „fürstlich bewirtete“. „Das war eine tolle Geschichte, wir hatten ja nichts mehr“, sagt der 88-Jährige. Bis dahin sei die Zeit auf einem Bauernhof in Lenggries aber richtig schön gewesen. Auch wenn Fliegeralarm war und man die Bomber Richtung München fliegen sah, hätten die Kinder die „Silberlinge“ am Himmel bestaunt, um dann das „fürchterliche Scheppern“ aus München zu hören.
„Mein erster Rausch“
So vieles blieb für immer im Gedächtnis haften: Ella Oertle erinnert sich daran, dass es in der Nähe des Dorfes ein Wein-, Schuh- und Textillager gab, das die Amerikaner aufsprengten, als sie einmarschierten. Die Dorfbewohner und alle Kinder haben dann versucht einzusammeln, was ging. Und als der Wein wie ein Bach herausfloss, habe sie zusammen mit anderen Kindern von dem Wein getrunken. „Mein erster Rausch, und das mit neun Jahren!“, lacht sie.
Auch Christl Wenzl hat das Kriegsende nicht in München, sondern in Ruhpolding erlebt. Da war sie acht Jahre alt. Sie erinnert sich an die große Wiese, auf der die US-Soldaten die Zelte aufgeschlagen haben.
„Wir hatten damals kaum etwas zu essen“, erzählt die 88-Jährige. Ein Soldat habe sie mal zum Frühstück mit Weißbrot mitgenommen. „Ich sehe das Bild vor mir, wie wir alle auf der Wiese saßen.“
Und dann die Rückkehr in die Stadt: Als der Krieg zu Ende ging, war Fritz Gutsch zehn Jahr alt, und er lief zu Fuß mit seiner Mutter in zwei Tagen zurück nach München. „Dort war alles kaputt“, erzählt er. Zum Beispiel auch der U-Bahn-Schacht, den Hitler schon in den 1940er-Jahren bauen ließ und der während des Krieges als Bunker genutzt wurde. Für ihn als Buben waren die Schuttberge in München aber eher ein Abenteuerspielplatz, meint der 90-jährige ehemalige Zahnarzt.
Bei Werner Mücke dauerte es noch einige Monate, bis sie zurück nach München durften, weil man dafür einen Passierschein benötigte. Inzwischen hielt sich die Familie mit Zufallsfunden über Wasser: Zum Beispiel hatte die Wehrmacht einen Waggon mit so genannten Teufelsmützen hinterlassen. Das sind Wollmützen, die man unter dem Helm anzog. „Meine Mutter hat die Mützen aufgetrennt, die Wolle gefärbt und daraus Pullover gestrickt“, erzählt Werner Mücke. Aus einem Waggon mit verschimmeltem Kommissbrot wurde zudem der Schimmel ausgeschnitten, um den Rest zu essen.
Schließlich war es so weit: Der Passierschein war da und auf einem Lastwagen ging es gen München. Die spannende Frage dabei: Steht die Wohnung noch? Und in der Tat, als sie um die Ecke bogen, sahen sie ihr Haus.
Für Christl Wenzl ging es zurück, als ein Soldat einen Wagen zur Verfügung gestellt hatte. Am Bavariaring sind sie dann wieder in ihre große Wohnung gezogen, die dann aber von den Amerikanern beschlagnahmt wurde, so dass sie zu fünft in einem Zimmer wohnen mussten, „mit 15 Minuten Küchenbenutzung“, wie sich Christl Wenzl erinnert.
„Ich esse den Butzen“
Fritz Gutsch hat nach der Rückkehr in die Stadt mit seiner Familie erstmal Unterschlupf bei der Großmutter gefunden. Interessant fand er dabei zu beobachten, wie die Häuser nach und nach wieder aufgebaut wurden. Die Armut war dabei allerdings mit Händen zu greifen: „Wenn wir mal einen Apfel aufgetrieben hatten, sagte ich gleich: Ich esse den Butzen“, erzählt er. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“
Doch München war zunächst einmal eine Stadt voller Ruinen. Werner Mücke hat noch die Bilder der Zerstörung vor Augen: In Schwabing waren riesige Schuttberge, die Bockerlbahn fuhr aus der Innenstadt die Trümmer weg. Und die Trümmer-Frauen klopften die Ziegelsteine zur Wiederverwertung vom Mörtel frei. Dass manche Situationen auch gefährlich waren, hat Werner Mücke damals nicht so empfunden. Zum Beispiel als die Kinder im Luitpoldpark ein Waffenlager entdeckten und zum Spaß Patronenpulver in die Luft sprengten.
An die Ruinenstadt München hatte sich Helga Hofstetter irgendwann gewöhnt, sagt sie heute und erinnert sich an die Augustenstraße zwischen Bahnhof und Josephsplatz: „Da stand kein einziges Haus mehr.“ Auch zwischen Marienplatz und Odeonsplatz war nur noch das Café Feldherrenhalle unversehrt. Dort konnte Helga Hofstetter auch einmal ein Konzert besuchen, weil sie die notwendige Brikett-Kohle als Eintrittspreis organisieren konnte.
Ella Oertle kam aus der Evakuierung erst Jahre später nach München zurück. Da war sie schon 18 Jahre alt. Sie seien fast mit denselben Leuten zurückgekehrt, mit denen sie damals evakuiert worden waren, erinnert sie sich. Langsam kehrte auch ein für sie besseres Leben zurück. Sie erinnert sich, mit ihrer Clique im Café am Dom tanzen gegangen zu sein. „Aber wir waren damals sehr arm“, erzählt sie. Der Vater sei schon 1940 gestorben, und so musste die Mutter die vier Kinder alleine großziehen. Von ihr habe sie viel fürs Leben gelernt. Denn die Mutter habe immer gesagt habe: „Mach vor nichts die Augen zu. Lerne und schaffe, so viel du kannst.“
„Ich hatte einfach wahnsinniges Glück“
Wie für viele Kinder startete für Helga Hofstetter nach einer langen Pause die Schule. Unter erschwerten Bedingungen. Denn die Nazi-Lehrer waren entlassen, die anderen mussten sich aufteilen. Schulbücher gab es überhaupt nicht. Alle Schulbücher, die in der Nazizeit verwendet worden sind, wurden verboten und durften nicht mehr benutzt werden, und neue Bücher gab es nicht.
Da entdeckte Helga Hofstetter bei ihren Eltern Mathematik-Bücher und fing an zu lernen. Das war der Start in ihre Berufskarriere. Denn sie studierte später Mathematik und arbeitete 37 Jahre lang bei Siemens als Mathematikerin. Sie war damals in ihrem Arbeitsbereich die erste Frau unter lauter Männern. „Aber ich habe es genossen“, sagt sie und lacht. „Ich hatte einfach wahnsinniges Glück.“
Und jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, blicken die Bewohnerinnen und Bewohner des Münchner Augustinum dankbar auf ihr Leben zurück. „Ich finde es etwas Besonderes, dass wir 80 Jahre Frieden haben“, sagt Christl Wenzl, „wir haben in den besten Zeiten gelebt. Es ging immer aufwärts.“