Menschen
Es war kurz vor Kriegsende, nach einem Bombenangriff, als die siebenjährige Helga zusammen mit ihrer Tante auf dem Fahrrad von Garching nach München gefahren ist. Denn zu ihr war Helga Rehe und ihre Familie evakuiert worden. Auf dem Gepäckträger ist das Mädchen gesessen. Und die Tante wollte dringend nach einer Verwandten sehen. Helga Rehe erinnert sich daran, wie sie an einem brennenden Haus vorbeikamen, von dem ein brennender Balken herabhing, und wie der Geruch danach in der Luft stand. „Ich habe das nicht wieder aus dem Kopf bekommen“, erzählt sie heute.
Ihre erste einschneidende Kriegserfahrung hat Helga Rehe drei Jahre vorher, 1942 erlebt. Damals hatte sie noch in München einen Unfall am Auge erlitten und musste in die Augenklinik, wo sie zusammen mit Soldaten behandelt wurde. Dort erlebte sie den ersten Bombenangriff mit Verdunkelung. „Jetzt ist plötzlich Nacht“, dachte sie. Bei dem Fliegeralarm sah sie die Leuchtkörper über der Stadt. „Es sah aus wie Christbäume“, erinnert sie sich. Danach wollte ihr Vater, dass die Mutter mit den Kindern zu ihren Geschwistern nach Garching evakuiert wurde. So wie viele Münchnerinnen und Münchner damals aufs Land in Sicherheit gebracht wurden.
Von 1943 bis 1945 war sie bei ihrer Tante in Garching evakuiert, wo ihr Vater wertvolle Geräte untergestellt hatte. Ihr Vater war Dentist und wurde, weil er zu alt war, um eingezogen zu werden, in den Polizeidienst geholt. Dort hat er seiner Erzählung nach die Berichte für die Straßenpolizei geschrieben, berichtet die 87-Jährige.
Aber auch auf das sichere Land schickte der Krieg seine grimmigen Grüße. Helga Rehe erinnert sich daran, dass sie im Frühjahr 1945 neben dem Bauernhof der Großeltern Milch beim Milchhäusl holen sollte. „Da hat es von Norden her immer wieder gedonnert, aber es war kein Gewitter in Sicht“, erzählt sie. „Bald wird der Krieg zu Ende sein“, habe daraufhin eine Frau gesagt. Und alle hatten Angst, dass München zum Schluss noch weiter bombardiert wird.
Eine schöne Kindheit – trotz allem
Von Westen und von Norden rückte die US-Armee Ende April auf München zu. Bevor die Stadt sich ganz ergeben hatte, war die amerikanische Besatzung noch zwei bis drei Tage in Garching stationiert, erzählt Helga Rehe. Ihre Zeit in der Evakuierung ging somit langsam dem Ende entgegen. „Ich denke oft an die Zeit in Garching“, sagt Helga Rehe heute. „Ich war damals mit der Verwandtschaft eng verbunden.“ Und ja, es sei trotz allem eine schöne Kindheit gewesen, findet sie.
Im Frühsommer 1945 war es dann so weit: Mit dem gesamten Gepäck ist die Familie nach München zurückgefahren, mit Kontrolle durch die Militärpolizei. Die bange Frage dabei: Steht ihr Haus noch? Doch die Wohnung war zum Glück noch in Ordnung, so dass sie wieder dort einziehen konnten – ganz in der Nähe von Hitlers ehemaliger Wohnung, die von Militär-GIs bewacht war, wie sich Helga Rehe erinnert.
Bunte Steine vom Friedensengel
Da war er dann wieder: der Schatten der NS-Diktatur, den Helga Rehe auch zuvor schon unfreiwillig miterlebte. Denn sie erinnert sich daran, dass ihr Vater noch vor der Evakuierung zu jüdischen Patienten nach Hause ging, um sie heimlich zu behandeln. Sie selbst musste damals als Kind mitgehen, damit niemand Verdacht schöpfte, und es wie ein privater Besuch aussah.
Zurück in München war die Stadt 1945 jedenfalls ein Trümmerfeld. Vor ihrem Haus befanden sich Schutthaufen, wo sich die „Ratzen getroffen haben“. Es habe lange gedauert, bis die Trümmerberge verschwunden waren und auch die Straßenbahn wieder fahren konnte. „Aber wir haben große Freiheit gehabt und konnten im Freien spielen“, erzählt Helga Rehe. Auf der Straße hat sie damals nach Zigarettenstummeln gesucht und dem Vater gebracht. Der hat dann den Rest-Tabak geraucht. Und wenn sie mit anderen Kindern am Friedensengel gespielt hat, hat sie dort lauter bunte Steine aus dem Mosaik der Statue gefunden und gesammelt.
Ein GI sucht Familienanschluss
Auch an Begegnungen mit US-Soldaten erinnert sie sich: Ein GI habe mit ihr ein Gespräch begonnen, der gebeten hat, mit zu den Eltern zu kommen. „Er hat Familienanschluss gesucht“, erzählt Helga Rehe. „Es war ein liebenswerter Mann, der Deutsch sprechen wollte.“ Sie erinnert sich noch, wie die Mutter, die wieder schwanger war, einen Topf voll Windeln aufgesetzt hatte und sah, dass dem Soldaten ein Knopf am Hemd fehlte, den sie ihm annähen wollte „Macht Wascheri“, habe er gesagt. Von diesem Besuch gibt es sogar Fotos.
Die Nachkriegszeit war eine arme Zeit, in der man sich behelfen musste. Im Winter sind die Kinder Schlittschuhe auf der Straße gelaufen, die Lastwagen sind mit Holzvergasern gefahren, und sie haben sich mit den so genannten Absatzreißern, die man an die Winterschuhe schnallte, an die Wagen gehängt und sich ziehen lassen, erzählt Helga Rehe.
Einmal sei etwas Besonderes, eine Lieferung Damenbinden, gekommen. Und in der Metzgerei gab es alles aus Molke. „Das hat fürchterlich geschmeckt.“ Die Ernährung war überhaupt schwierig und rationiert. Es gab Lebensmittelmarken. Zum Geburtstag habe sie einmal 50 Gramm Zucker geschenkt bekommen, und einmal gab es eine Sonderzuteilung Kunsthonig. Als dann die Währungsreform kam, habe man die wertlosen Reichsmarkgroschen über die Mauer geworfen, weil sie nichts mehr wert waren.
Die erste Opernaufführung und Frauen in Abendkleidung
Allmählich jedoch kehrte das Leben nach München zurück: Erinnerungen hat Helga Rehe vor allem an die erste Opernaufführung im Prinzregententheater, deren Einzug der Gäste sie beobachtet hatte. Bundespräsident Theodor Heuss war dabei gekommen. Man sah Leute in Abendkleidung. „Etwas völlig Neues. Die Damen konnten mit den hohen Schuhen kaum gehen.“
Als die Amerikaner am 30. April 1945 in München eingezogen waren, hatten sie eine Stadt vorgefunden, die zur Hälfte dem Erdboden gleichgemacht war. Die historische Altstadt war sogar zu 90 Prozent zerstört. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als 800.000 Menschen in München. Danach waren es nur noch knapp 480.000. Aber schon ein Jahrzehnt nach dem Krieg waren alle Trümmer beseitigt. Zwölf Jahre nach Kriegsende sprengte die Einwohnerzahl Münchens bereits die Millionengrenze. Häuser, Fassaden und Kirchen wurden wieder aufgebaut oder hergerichtet. München wurde von der „Hauptstadt der Bewegung“ zur heimlichen Hauptstadt Deutschlands. Ein lebendiges Pflaster.
„München“, sagt Helga Rehe daher, „ist einfach meine Heimat.“ Sie ist nie weggewesen. Auch der Vater sei schon in München geboren. Und hier ist sie heimisch geblieben. Ein Glück war es später für sie, dass der Vater als Dentist einen Patienten hatte, dem er eine Prothese machen konnte. Dieser habe ihrer nun eigenen Familie dann ein Gartenstück vermitteln können, weil er selbst einen Schrebergarten hatte. Wenn Helga Rehe heute daher aus ihrer Augustinum-Wohnung im Münchner Norden über die Dächer von München blickt, sagt sie daher: „Ich hatte ein erfülltes Leben.“ Und was den Krieg betrifft, sei es einfach ein großes Glück gewesen, dass es keine großen Verluste in der Familie gab.